Auf der Kinoleinwand große Gefühle, dicke Kullertränen und ein bisschen Weltpolitik, auf dem roten Teppich der Protest-Glamour Berlins – und der Glanz klangvoller Namen. Die 75. Berlinale startete in eisiger Kälte und einem schneeverwehten Berlin.
Wie romantisch, werden manche sagen. Für die Festivalbesucher brachte das allerdings auch Herausforderungen mit sich. Besonders die weiblichen Gäste der Eröffnungsgala am Donnerstagabend im funkelnden Berlinale-Palast brauchten dieses Jahr die sprichwörtliche Haut: Frostbeulengefahr!
Und so konnte Tricia Tuttle, die neue Chefin der Internationalen Filmfestspiele Berlin, gleich unter Beweis stellen, wie stark der Wärmestrom ist, der von ihr ausgeht. „Schnee ist doch ein gutes Vorzeichen“, meinte Tuttle am Morgen. Zum Kuscheln ist sie allerdings nicht nach Berlin gekommen. Dazu steht zu viel auf dem Spiel. Immerhin 240 Filme brachte die sympathische US-Amerikanerin gemeinsam mit ihrem Team an den Start. Zu sehen sind die bis 23. Februar.
19 Produktionen davon kämpfen in der Wettbewerbssektion der Berlinale um den Goldenen und die Silbernen Bären. Darunter sind 17 Weltpremieren. Die Preisträger werden am 22. Februar gekürt. Am Donnerstagabend aber sollte Tuttle erst mal zusammen mit Todd Haynes, dem Präsidenten der Internationalen Jury, die Filmfestspiele eröffnen.

Tricia Tuttle wollte nach der Aufregung um pro-palästinensische Parolen auf der Abschlussgala im vorigen Jahr Ruhe ins Festival bringen. „Die Berlinale ist viel mehr als nur Politik“, sagte sie vor Kurzem. „Wir wollen wieder, dass die Leute über Filme und die Filmkunst selbst reden.“ Ob ihr das durchweg gelingt, ist fraglich.
Schon in der Jury-Pressekonferenz am Donnerstag ging es über weite Strecken um US-Präsident Donald Trump und die Folgen. Auch um Palästina. Und gleich zwei Filme haben es ebenfalls in sich.

In der Sektion Special läuft der Film „Michtav Le'David“ von Tom Shoval. Das Festival beschreibt ihn als „einen persönlichen Brief“ an den Schauspieler David Cunio, der von der Hamas entführt wurde. Und auch in der Sektion Forum steht das Schicksal israelischer Geiseln im Fokus – dort wird der Film „Holding Liat“ gezeigt. Proteste sind in dem Zusammenhang keinesfalls auszuschließen.
Schicksal israelischer Geiseln im Fokus der Berlinale
Am Donnerstag jedenfalls sollte alles friedlich über die Festivalbühne gehen. Die baustellen- und leerstandbedingte Tristesse am Marlene-Dietrich-Platz wurde hübsch aufgehellt. Morgens stellte sich die Internationale Jury um Todd Haynes vor.
Auch die Berliner Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader („Ich bin dein Mensch“) gehört dazu. Sie sagte: „Wir brauchen keine platten Antworten zu geben. Wir dürfen Fragen stellen. Ich fühle mich sehr geehrt, hier zu sein.“

Abends dann die große Eröffnung mit dem Berlin-Film „Das Licht“ von Tom Tykwer („Babylon Berlin“). Nach zehn Jahren hat er endlich wieder was fürs Kino gemacht. Regisseur Tykwer eröffnete die Berlinale damit bereits zum dritten Mal.
„Das Licht“ (Sektion „Berlinale Special Gala“) handelt von einer kaputten Berliner Mittelstandsfamilie, bei der jeder in seinem eigenen „Aquarium“ lebt, und die sich nach nicht mehr und nicht weniger als nach Erlösung sehnt. Die kommt in Form einer syrischen Haushälterin daher (kraftvoll und intensiv: Tala Al-Deen, die Schwester des Sängers Laith Al-Deen).
Der Plot ist verstreut: Eine engagierte Mutter versagt in ihrem Anspruch, die Welt zu retten und die Familie zusammenzuhalten (herausragend: die edelhysterische Nicolette Krebitz). Der Vater (Lars Eidinger) ist ein frustrierter Links-Intellektueller, der seit Jahren nicht mehr mit seiner Frau schlafen darf und die coolen Sprüche seiner Tochter für eigene Werbeclaims nutzt. Die Kinder haben ihren Kompass noch nicht gefunden – und dann taucht wie aus dem Nichts die geheimnisvolle Farrah auf, eine Flüchtlingsfrau, und kittet alles. Wie, wird an dieser Stelle natürlich nicht verraten.

Jedenfalls ist das 162 Minuten lange Werk mit seinem realistischen Symbolismus, seinen sintflutartigen Regenfällen, den choreografierten Tanz- und alptraumartigen Unterwasserszenen nicht leicht zu verdauen. Aber man kann den Film mögen, wenn man sich auf die Perspektive der Figuren einlässt. Bei einer ersten Pressevorführung bekam das Werk nur gebremsten Applaus. Schade eigentlich.
Tykwer sagte am Donnerstag, er habe mit „Babylon Berlin“ jahrelang durch die „Generation seiner Großeltern“ auf die Welt geblickt. Mit „Das Licht“ wollte er die Welt wieder durch die Augen der Jungen betrachten.
Tilda Swinton mit Tränen in den Augen
Bei der von Désirée Nosbusch charmant moderierten Gala am Donnerstagabend durfte sich die schottische Schauspielerin und Oscar-Preisträgerin Tilda Swinton übrigens besonders freuen – über den Goldenen Ehrenbären für ihr Lebenswerk. Mit Tränen in den Augen lauschte der Weltstar der Laudatio von Regisseur Edward Berger („Im Westen Nichts Neues“) – um anschließend selbst auszuteilen, und zwar gegen Donald Trump.

Mit Anspielung auf den US-Präsidenten sagte Swinton, im Kino könne man sich in ein unbegrenztes Reich begeben, „unempfindlich gegenüber Bestrebungen der Besetzung, Kolonisierung, Übernahme, Besitz oder der Entwicklung von Riviera-Grundstücks-Landbesitz.“ Tosender Applaus im Saal, die Schauspielerin war ohnehin schon mit stehenden Ovationen begrüßt worden.
Tilda Swinton kritisierte jede Form der Unterdrückung: „Der vom Staat verübte und international ermöglichte Massenmord terrorisiert im Moment mehr als einen Teil unserer Welt“, sagte sie mit getragener Stimme.
Draußen, in der Fanzone am roten Teppich, hatte es ebenfalls Proteste gegeben, da allerdings gegen deutsche Waffenlieferungen an Israel. Schon vom ersten Berlinale-Tag an war damit eine politische Duftmarke gesetzt, und das, obwohl die Festival-Leitung eigentlich andere Pläne hatte.

Unter den Gästen im Saal war auch die Klimaaktivistin Luisa Neubauer – in einem weißen Abendkleid, auf dem hinten die Lettern „Democracy Dies In Daylight“ (Die Demokratie stirbt im Tageslicht) prunkten, vorne aber die Vornamen von Trump, Musk, Weidel und Merz. Dem KURIER sagte Neubauer: Es sei gerade jetzt so wichtig, diese Botschaften unter die Leute zu bringen. „Und wenn ich dann eingeladen werde, warum sollte ich die Gelegenheit dazu nicht nutzen?“
Die Schauspielerin Jessica Schwarz und Oscar-Regisseur Volker Schlöndorff zeigten sich angetan von der neuen Festival-Chefin Tricia Tuttle, mit der sie ein paar Worte wechseln konnten. Unter den Gala-Gästen waren auch Ulrich Matthes, Eva Mattes, Nina Hoss, Bundesministerin Lisa Paus (Grüne), Berlins Regierender Kai Wegner (CDU), Lisa Vicari und Alicia von Rittberg (beide in Giorgio Armani), Herbert Grönemeyer, Lilith Stangenberg, Natalia Wörner, Iris Berben, Tom Wlaschiha, Matthias Schweighöfer, Sibel Kekilli sowie Aino Laberenz (in Miu Miu).

Weitere namhafte Prominenz wird in den kommenden Festivaltagen erwartet. Einer der strahlenden Stars der diesjährigen Berlinale ist Timothée Chalamet (29, „Dune“), der am Freitag sein heiß erwartetes Bob-Dylan-Biopic „Like A Complete Unknown“ präsentiert.
Am Samstag sorgt dann Robert Pattinson für Kreischalarm, wenn er mit seinem neuen Sci-Fi-Abenteuer „Mickey 17“ von „Parasite“-Regisseur Bong Joon Ho in der Hauptstadt aufschlägt. Auch Jessica Chastain, Marion Cotillard, Margaret Qualley, Benedict Cumberbatch und Ethan Hawke haben sich angekündigt.
Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) sagte zur Berlinale-Eröffnung am Donnerstag: „Gerade in diesen nicht einfachen Zeiten kann uns die Kraft des Kinos viel geben: Neue Sichtweisen und Inspirationen, kritische Spiegelungen wie auch viel Stoff für Träumereien.“ Wie wahr, wie wahr.
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