Berlin rollt den roten Teppich aus, die 74. Berlinale ist eröffnet. Das größte Publikumsfestival der Welt schenkt uns zehn Tage lang Bären-Fieber, Oscar-Glanz und das eine oder andere Kino-Juwel. Zum Start gab es viel Gedränge im rot bestrahlten Berlinale-Palast.
Matt Damon hatte es nicht leicht, alle wollten zunächst Autogramme von Cillian Murphy, dem Hauptdarsteller des Eröffnungsfilms „Small Things Like These“. Trotzdem war er zufrieden, schließlich hatte er den Film produziert. Und jetzt wurde das Werk gefeiert. In Berlin, der Stadt, die er so cool findet.
Das irisch-belgische Drama von „Peaky Blinders“- Regisseur Tim Mielants hatte bei einer ersten Pressevorführung in Berlin allerdings gemischte Reaktionen ausgelöst. Kurz gesagt geht es um einen Kohlenhändler namens Bill, der 1985 die skandalösen Zustände in einer irischen Magdalenen-Wäscherei aufdeckt.

In diesen kirchlichen Heimen – auch in Deutschland gab es ähnliche Einrichtungen – sollten „gefallene junge Frauen“ wieder auf den rechten Weg gebracht werden. Oscar-Favorit und „Oppenheimer“-Star Murphy, der den dunklen, leisen, betont langsamen und etwas holzschnittartig angelegten Film gemeinsam mit Matt Damon produziert hat, spielt diesen schuftenden Kohlenhändler – Sinnbild für einen selbstlosen Mann, der in zugigen und kalten Zeiten, den Leuten jene Wärme bringt, die Menschlichkeit überhaupt erst möglich macht. Einen Bären kann der Film nicht gewinnen, er läuft außer Konkurrenz.
Bewegende Reden auf der Berlinale
Die echte Konkurrenz startete am Donnerstagabend um Punkt 20.45 Uhr. Nach bewegenden Reden von Berlinale-Chefin Mariette Rissenbeek, Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) und Berlins Regierendem Bürgermeister Kai Wegner (CDU) wurden die 74. Internationalen Filmfestspiele Berlin offiziell eröffnet. Alle drei machten sich für Toleranz, Vielfalt und Demokratie stark. „Die Berlinale, sie steht für Weltoffenheit, für Freiheit, für Demokratie, Vielfalt, Diversität, Solidarität und Zusammenhalt. Für all das steht die AfD nicht“, sagte Wegner.
Mariette Rissenbeek erklärte noch mal, warum sie die AfD bei ihrem Festival nicht dabei haben wollte, die Abgeordneten waren vor einigen Tagen ausgeladen worden: „Viele Menschen im Team der Berlinale, aber auch im Freundeskreis, im Bekanntenkreis sind betroffen von den Absichten der AfD, Menschen mit Migrationshintergrund des Landes zu verweisen, sie zu deportieren. Das können und das wollen wir als Festival nicht tolerieren.“

Auch Claudia Roth sagte in aller Deutlichkeit: „Unsere Demokratie ist nicht immun. Sie wird bedroht von ihren Feinden.“ Rechtspopulisten und Rechtsextreme nannte sie Feinde der offenen Gesellschaft. „Sie wollen diese Republik, unsere freiheitliche Demokratie zersetzen und zerstören. Gegen ihren Rassismus und ihren Hass setzen wir die Schönheit der Verschiedenheit, setzen wir Respekt und Mut, setzen wir Freude und Verständigung, setzen wir Empathie und Humanität.“
Keine Berlinale mehr, die unpolitisch ist
Die Gäste des Abends ließ das Thema ebenfalls nicht los. Schauspielerin Meltem Kaptan sagte dem KURIER im Berlinale-Palast: „Es wird keine Berlinale mehr geben, die unpolitisch ist.“ Ähnlich sah es ihr Kollege Jürgen Vogel, auch wenn der hofft, dass am Ende die Filmkunst siegt. Und der Publizist Michel Friedman fand wichtig, dass die Demokraten an diesem Abend geschlossen zusammenstehen. Dem KURIER sagte er: „Wäre die AfD hier, ich wäre wahrscheinlich nicht gekommen.“
Auch auf dem roten Teppich vor dem Kino – überall politische Statements und Transparente: Jella Haase, Pheline Roggan und Katja Riemann riefen „Defend Democracy“ (Verteidigt die Demokratie). Andere trugen Kleider mit schwarzen Schriftzügen. Für Transparenz sorgte Luise Helm, die ein komplett durchsichtiges Oberteil anhatte. Da fiel das silberglänzende, superelegante H&M-Vintage-Kleid von Jessica Schwarz schon fast aus dem Rahmen.

Die große Frage des Abends war: Kommt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj? Er wollte am Freitag Berlin besuchen. Im letzten Jahr klinkte er sich per Videoschalte auf der Berlinale ein. Und dieses Mal? Es wäre schon ein Coup, würde Selenskyj tatsächlich die Berlinale besuchen. Kai Wegner sagte dem KURIER: „Schade, dass er nicht einen Tag früher hier ist.“
Kristen Stewart auf der Berlinale zu sehen
Wegner übrigens musste zum Glück nicht die U-Bahn zum Potsdamer Platz nehmen. Er kam mit seiner Sicherungsgruppe ins Festivalkino gesaust. Nur einen Tag vor seinem ersten Auftritt bei den Internationalen Filmfestspielen als Berlins Regierender Bürgermeister hatte er noch einen Schocktermin in der U8 absolviert. Konfrontiert war er dort mit Drogen, Dreck und Durchgeknallten.
Jetzt durfte er sich von der dunkelsten Ecke Berlins in das zurzeit funkelndste Areal der Stadt beamen. Und dort, am Marlene-Dietrich-Platz, auf Weltstars vom Kaliber eines Matt Damon, eines Cillian Murphy und einer Emily Watson treffen, die allesamt Werbung für ihren Film „Small Things Like These“ machten.
Murphy verriet in Berlin, seine Frau habe ihm den Tipp gegeben, sich die Rechte für das Buch von Claire Keegan zu sichern, was er dann auch gleich tat. Der Schauspieler: „Das Buch war erlösend ... Ein Christ, der versucht, christlich zu sein in dieser ziemlich unchristlichen Gemeinde.“ Man musste diesen Film einfach machen. Berlin findet er übrigens dufte: „Ich liebe die Stadt und bin schon zum fünften Mal hier.“

Mit der Oscar-Preisträgerin Lupita Nyong’o sitzt wieder ein Hollywoodstar als Präsidentin in der Internationalen Jury. Im vorigen Jahr war es Kristen Stewart gewesen, die dieses Mal als Schauspielerin zu sehen sein wird (in „Love Lies Bleeding“ am 18. Februar). Außerdem darf der deutsche Kino-Regisseur Christian Petzold, der 2023 für das Drama „Roter Himmel“ den Großen Preis der Jury erhielt, über die Bärenvergabe mitentscheiden. Dazu neben anderen die ukrainische Schriftstellerin Oksana Zabuzhko.
20 Werke laufen dieses Jahr im Berlinale-Wettbewerb
Petzold wurde am Donnerstag natürlich auch gefragt, wie er den AfD-Rauswurf kommentiere. Er sieht das entspannt: „Auf die AfD-Frage warte ich schon seit einer Woche … Ich glaube, es ist kein Problem, fünf Leute von Rechtsaußen im Publikum zu haben. Wir sind die Mehrheit!“ Und Lupita Nyong’o ergänzte rasch: „Ich bin hier Ausländerin. Und ich bin froh, dass ich die Frage nicht beantworten muss.“ Na dann …
20 Werke laufen dieses Jahr im Berlinale-Wettbewerb. Darunter ist Andreas Dresens preisverdächtiger Widerstandsbeitrag „In Liebe, Eure Hilde“. Mit einer unter die Haut gehenden Echtheit spielt Liv Lisa Fries Hilde Coppi, die 1943 unterm Fallbeil starb – weil sie Hitler die Stirn geboten hatte. Insgesamt sind auf der 74. Berlinale annähernd 240 Filme aus 80 Ländern zu sehen.

Die Bären-Gewinnerinnen und Bären-Gewinner werden am 24. Februar gekürt, einen Tag vor dem Ende des Festivals. Streaming, auch von Netflix, ist in diesem Jahr wieder das große Ding. Und auf starke Frauen setzt die Berlinale erneut besonders. Alte Bekannte und bekannte Alte dürfen den roten Teppich entern, darunter US-Regie-Legende Martin Scorsese („Killers of the Flower Moon“). Er bekommt am 20. Februar den Ehrenbären überreicht.
Neue Berlinale-Chefin lief durchs Foyer
Zur Eröffnung am hübsch bestrahlten, aber immer noch baustellengeplagten Potsdamer Platz waren am Donnerstag auch die Schauspielerinnen Iris Berben und die oben erwähnte Liv Lisa Fries geladen, dazu Christiane Paul (in Prada) und Emilia Schüle (in Miu Miu), ebenso Ex-Profi-Kicker Philipp Lahm, der ein Fußball-Filmprojekt unterstützt, das Mariette Rissenbeek initiiert hat. Auch Sandra Maischberger, Natalia Wörner, Veronica Ferres, Wim Wenders, Ulrich Matthes, Hannah Herzsprung, Toni Garrn, Fatih Akin, Sibel Kekilli und Nikolai Kinski waren im Gewusel zu sehen.

Kulturstaatsministerin Claudia Roth hatte wieder Einladungen an ihre Kabinettskollegen ausgesprochen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD, „Meine Frau und ich haben denselben Kinogeschmack“) und Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) freuten sich sichtlich, die glanzlose Tagespolitik für zwei, drei Stündchen vergessen zu dürfen.
Nach der Filmvorführung gab es den Eröffnungsempfang. Den letzten von Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian. Die zwei Berlinale-Chefs hören in diesem Jahr auf. Tricia Tuttle, ihre Nachfolgerin, lief nahezu unerkannt durchs Foyer. Das wird sich schon in wenigen Monaten ändern, dann kennt sie jeder.

Viele zogen nach dem Empfang weiter zur Berlin Opening Night im „Hotel SO/ Berlin Das Stue“. Unter den 400 Gästen von Sascha Schwingel, Doris Brückner, Nico Hofmann und Stephan Schmitter waren auch Verona Pooth, Hardy Krüger Jr., Amira Pocher, Andrea Sawatzki, Anna Ermakova und Thomas Heinze.