Mehr Aufmerksamkeit kann man für ein Filmfestival, das sich politisch definiert, eigentlich nicht bekommen. Erst wurde bekannt, dass die beiden iranischen Filmemacher Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha ihren Wettbewerbsbeitrag „My Favourite Cake“ nicht persönlich auf der 74. Berlinale (15. – 25. Februar) vorstellen dürfen – ihnen wurde die Ausreise untersagt. Dann gab es Knatsch wegen der Einladung für mehrere AfD-Abgeordnete zur Berlinale-Eröffnung.
Carlo Chatrian (52) und Mariette Rissenbeek (67), die scheidenden Chefs der Internationalen Filmfestspiele Berlin, können sich in ihrem letzten Jahr über mangelndes Interesse nicht beklagen. Alles richtig gemacht also? Immerhin: Der 81-jährige US-Meisterregisseur Martin Scorsese erhält am 20. Februar im Berlinale-Palast den Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk („Taxi Driver“, „Killers of the Flower Moon“).
Der KURIER sprach mit Mariette Rissenbeek, die die Internationalen Filmfestspiele Berlin nach fünf Jahren verlässt.
Frau Rissenbeek, ich bin traurig, dass Sie gehen. Sie auch?
Nun, ich bin auch ein bisschen melancholisch. Als ich die Möglichkeit bekam, die Berlinale als Teil einer Doppelspitze zu leiten, fand ich das schon toll. Wissen Sie, ich habe so lange Festivals gemacht, bei German Films, 17 oder 18 Jahre lang. Ich finde, dass Festivals eine tolle Begegnungsmöglichkeit sind. Filmemacher*innen haben dort die Möglichkeit, ihre Filme zu zeigen und mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen, das ist ziemlich einzigartig, und die Berlinale – die war für mich immer schon DAS Festival.

Sie gehen nach fünf Jahren. Wirklich nur, weil der Vertrag ausläuft, oder gab es hinter den Kulissen auch Knatsch wie bei Co-Direktor Carlo Chatrian?
Tatsächlich wollte ich keinen neuen Vertrag, weil mich diese Arbeit schon auch sehr vereinnahmt und mich in der Pandemie auch besonders viel Energie gekostet hat.
Berlinale-Chefin Mariette Rissenbeek hat ein 500-köpfiges Team
Inwiefern?
Ein 500-köpfiges Team durch eine Pandemie zu führen und sich Formate auszudenken und gleichzeitig an die Gesundheit aller Beteiligten zu denken – das ging ziemlich an die Nerven. Dann kommt dazu: Ich habe bei meiner vorherigen Arbeit bei German Films immer direkt etwas mit Filmen zu tun gehabt. Bei der Berlinale fehlte mir zuletzt einfach die Zeit, mich noch mit Inhalten zu beschäftigen, ich konnte nebenher nichts machen, was mich inhaltlich vielleicht auch noch mal mehr gefordert hätte. In Zukunft würde ich das doch gerne wieder machen, dass ich den einen oder anderen berate, wenn es um seine Filme geht oder um Veranstaltungen.
War Carlo Chatrian überrascht von Ihrem Ausstieg?
Nun, wir waren natürlich im Gespräch und ich habe ihm gesagt, warum ich keinen neuen Vertrag möchte.
Ich frage deshalb, weil er wissen musste, dass er das Festival unter den gegebenen Umständen alleine auch nicht weiterführen kann. Gab es deswegen Irritationen?
Den Eindruck hatte ich eigentlich nie. Ich glaube nicht, dass das unser Verhältnis belastet hat, nein.
Wie hoch ist der Druck bei dieser letzten Berlinale von Ihnen? Alle wollen jetzt noch mal mit Ihnen reden. Und die Bald-Direktorin Tricia Tuttle, die sitzt vermutlich im Publikum und schaut zu.
Der Druck steigt, je näher die Berlinale rückt. In der Vorbereitung konzentrieren wir uns aber ganz auf das Festival und versuchen alle anderen Themen auszublenden. Ich kannte Tricia Tuttle aus meiner vorherigen Tätigkeit, wenn auch nur flüchtig. Ich halte sie für eine gute Wahl.
Erklären Sie das, bitte.
Dass eine Frau an der Spitze steht, finde ich sehr schön. Und Tricia Tuttle bringt viel Festivalerfahrung mit. Und wie sich das Festival dann aus anderer Perspektive für mich anfühlen wird, weiß ich noch nicht. Ich hoffe, dass ich es genauso genießen kann wie auch in den vergangenen vier Jahren.
Wie sieht dieser Genuss aus?
Filmschaffenden die Hand geben zu können, sich mit Menschen austauschen zu können, vor Ort zu sehen, dass alles, was man geplant hat, auch wirklich stattfindet und funktioniert. Und ich habe ja dieses Sonderprojekt Kurzfilme über Fußball initiiert, das ist eine Herzensangelegenheit für mich: Elf Filme über Inklusion und Diversität werden hier ihre Premiere feiern. 130 Fußballspielende –Kinder oder Jugendliche unter 19 Jahren – werden alle zum Festival reisen und ihre Filme zum ersten Mal sehen. Dann machen sie einen Workshop über Film. Ich stelle mir das als eine Riesengaudi vor. Für mich ist es das Abschiedsgeschenk, das ich mir selbst habe machen können.
Mariette Rissenbeek mag die Berlinale-Bühne
Ihr Vorgänger Dieter Kosslick ist ein begnadeter Entertainer. Stehen Sie gern auf der Berlinale-Bühne?
Ich bin natürlich kein Entertainer wie Dieter, ich bin als Person einfach nicht so extrovertiert und habe auch nicht das Bedürfnis, mich mit so vielen Menschen zu vernetzen. Aber ich habe im Lauf der Jahre schon gelernt und begriffen und auch schätzen gelernt, dass man auf dieser Bühne eben eine Bühne hat. Man kann dort Themen kommunizieren, die einem wichtig sind und für die man sonst nicht so eine riesige Reichweite hätte.

Wichtig ist für Sie als Direktorin sicher das Thema Geld. Wie sehr knirscht es dieses Jahr?
Nicht mehr so sehr wie im letzten Sommer, weil das Land Berlin kurzfristig zwei Millionen Euro zugesagt hat, was ich natürlich toll finde. Immerhin hatte sich Berlin seit 2001 nicht mehr richtig am Festival beteiligt. Und dass der Senat mit den zwei Millionen jetzt auch zum Ausdruck bringt, dass das Festival ihm wichtig ist und dass es unter ordentlichen Bedingungen stattfinden soll, dass die finanzielle Unterstützung auch schon für 2025 zugesagt wurde, finde ich ganz hervorragend. Und deswegen knirscht es jetzt nicht mehr.
Wie hoch ist der Gesamt-Etat der 74. Berlinale?
Circa 33 Millionen Euro.
Hätten Sie und Carlo Chatrian sich manchmal noch mehr Power vonseiten der Politik gewünscht?
Natürlich ist uns wichtig, dass Politik und Kultur auch unabhängig voneinander funktionieren, darum muss man immer genau wissen, welche Power man sich von der Politik wünschen kann und soll. Dass Kulturstaatsministerin Claudia Roth das Festival sehr schätzt, ist, glaube ich, allen bewusst. Sie ist dort auch sehr präsent. Zum Beispiel empfiehlt sie ihren Kabinettskolleg*innen, welche Filme sie schauen sollen. Für sie ist das also schon eine wichtige Plattform. Inwiefern man hätte mehr erwarten können, kann ich nicht ganz beurteilen.
Den Star-Rummel kann Berlinale-Chefin Mariette Rissenbeek auch genießen
Wie sehr genießen Sie den Star-Rummel, der für das Festival in Berlin so wichtig ist, ähnlich wie Frau Roth?
(Lacht.) Ich habe schnell eingesehen, dass diese großen Namen enorm dabei helfen, auch in den entferntesten Ecken Berlins auf das Festival hinzuweisen. Ich wohne ja in Pankow, und da ist es nun nicht so, dass jede*r dort weiß, welche Filmschaffenden mit welcher unabhängigen und tollen Produktion zur Berlinale kommen. Das entspricht nicht ihrer Alltagswahrnehmung. Und dafür braucht es dann so eine Mitteilung wie „Hauptdarsteller aus ‚Oppenheimer‘ wird bei der Berlinale sein“, nur als Beispiel. Und ich selbst genieße das selbstverständlich auch.
Was besonders?
Letztes Jahr fand ich meine Begegnung mit Joan Baez ganz toll. Eine Ikone für mich! Und in dem Jahr, in dem ich Helen Mirren zum ersten Mal die Hand geben konnte, war ich auch ganz begeistert. Dieses Jahr wird Isabelle Huppert kommen, die leider, als sie 2022 den Goldenen Ehrenbären bekommen sollte, nicht anreisen konnte. Also, Sie sehen, ich habe schon Interesse, solche Menschen kennenzulernen.
Wie holt man so einen US-Regie-Giganten wie Martin Scorsese nach Berlin? Mag der uns besonders oder haben Sie intensiv gebaggert – spielte vielleicht sogar Geld eine Rolle?
Da kann ich alle beruhigen: Wir zahlen niemandem ein Honorar oder eine Vergütung oder ähnliches, also auch Scorsese nicht, und auch letztes Jahr Steven Spielberg nicht.
Wie machen Sie das dann? Verraten Sie uns Ihr Geheimnis.
Wenn ich ehrlich bin, bei diesen Persönlichkeiten muss man ein bisschen Glück haben. Haben die gerade einen Film, den sie bei den Oscars bewerben möchten, dann sind sie auch bei den BAFTAs in London, dann wiederum ist der Schritt über den Kanal ein relativ einfacher. Mit „Killers of the Flower Moon“ ist Martin Scorsese ja im Oscarrennen und bei den BAFTAs (die British Academy Film Awards sind die bedeutendsten nationalen Filmpreise Großbritanniens, d. Red.), aus dem Grund waren die Chancen gut, ihn für die Berlinale gewinnen zu können.
Also sind diese Megastars einigermaßen pflegeleicht?
Steven Spielberg zum Beispiel war ein ganz toller Gast. Und wir haben ihn an dem Tag, als er seinen Ehrenbären bekam, auch getroffen und uns mit ihm unterhalten. Aber davor und danach hatte er seinen eigenen Plan. Die sind schon sehr eingebunden.
Berlinale-Chefin Mariette Rissenbeek lud AfD wieder aus
Zum Programm: Wie viele Filme sind in diesem Jahr am Start?
237, kurz und lang.
Ich habe gesehen, darunter gibt es auch wieder die klassischen Themen Familie, Krieg, Globalisierung, Entfremdung, Verlust, Liebe, queere Gemeinschaften. Aber auch das große Thema „polarisierte Gesellschaften“. Gerade gibt es eine Kontroverse wegen der Einladung an AfD-Abgeordnete für die Berlinale-Eröffnung. Sie haben diese Politiker nach Protesten wieder ausgeladen. Wie schützen Sie das Festival vor einer direkten, aber auch unterschwelligen Unterwanderung von Populisten zum Beispiel durch eingereichte Filme?
Für die Berlinale sind Antisemitismus, antimuslimische Ressentiments und jede Form von Diskriminierung ein großes Thema. Wir haben einen klaren Code of Conduct. Aus der Position arbeiten wir, bei der Filmauswahl und bei der Organisation. Wir stellen uns gegen anti-demokratische Strömungen und werden das künftig noch einmal mehr tun, das entspricht unserer Grundhaltung.
Welche ist das?
Wir möchten eine Plattform für Dialog sein. Wir möchten offen sein für alle Perspektiven, aber wir wollen auf keinen Fall zur Polarisierung beitragen. Wir möchten keinem Hass, keinen antimuslimischen oder antisemitischen Stimmen Gehör verleihen. Und ich glaube, das kriegen unsere Kurator*innen alle ganz gut hin, weil sie sehr sensibel sind, was diese Themen angeht. Es geht immer um den Versuch, Filme zu zeigen, die verschiedene Perspektiven eröffnen, am Ende aber auch eine gemeinsame Perspektive aufzuzeigen versuchen.

Wie sieht die Zukunft solcher Plattformen aus? Hat so was wie Berlinale beim heutigen Kostendruck und den gegenwärtigen Krisen eine Ewigkeitsgarantie?
Dadurch, dass wir in einer Stadt leben mit einem sehr filminteressierten und gesellschaftspolitisch interessierten Publikum, wird es in Berlin immer Menschen jeden Alters geben, die sich gern anschauen, welche Filme weltweit produziert werden. Diese Menschen fragen sich: Was zeigt die Berlinale und welche Filme davon kann man sich auch später im Kino ansehen. Mit Blick darauf glaube ich schon, dass unser Festival absolut zukunftsfähig ist.
Wenn Sie noch mal fünf Jahre hätten, was würden Sie anders machen?
Ich würde noch mal prüfen, wie wir uns als Festival noch besser mit Kinos vernetzen können – weil ich schon glaube, dass so ein großes Festival wie die Berlinale auch eine gute Wirkung aufs Kinogeschäft haben sollte. Ich hatte mich schon mal mit der Frage beschäftigt, ob wir Berlinale-Filme auch über Berlin hinaus zeigen sollten – aber es ist gar nicht so einfach, die Berlinale auch in anderen Städten zu bewerben.
Warum?
So klar ist die Marke nicht, dass auch in Bochum jemand ins Kino geht, nur weil Berlinale draufsteht. Aber da hätte ich auf jeden Fall noch Potenzial für weitere Überlegungen, Arbeitsgruppen und Gesprächen mit Kinobetreiber*innen gesehen. Dieses Fußballprojekt, das ich jetzt vor dem Hintergrund der Europameisterschaft initiiert habe, hat mich noch mal motiviert, anders über junges Publikum nachzudenken und herauszufinden, wie junge Leute, die sich für Sport engagieren, auf so ein Festival reagieren. Solche Herangehensweisen haben großes Potenzial, ein neues Publikum anzusprechen.
Berlinale-Chefin Mariette Rissenbeek lobt Schauspielerin Liv Lisa Fries
Gibt es einen Gast, den Sie auf Ihrer letzten Berlinale gern noch sehen möchten?
Das ist eine große Frage. Geena Davis finde ich ganz spannend, die hätte ich gerne mal persönlich kennengelernt – und jemand, der jetzt nicht mehr arbeitet: Daniel Day-Lewis. Der hat mir in „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ außerordentlich gefallen. Die damalige Co-Darstellerin Lena Olin wird auf der Berlinale in einem Film zu sehen sein.
Kommt sie denn?
Das weiß ich nicht, aber als ich ihren Namen las, dachte ich sofort an Daniel Day-Lewis, den hätte ich auch gern hier gehabt.
Welchen Film muss man in diesem Berlinale-Jahr unbedingt sehen?
Sehr beeindruckt hat mich „Black Tea“ von Abderrahmane Sissako. Das ist ein Film über eine junge Frau aus Afrika, die kurzerhand beschließt, nicht zu heiraten. Stattdessen geht sie nach China. Es entwickelt sich dann eine Liebesgeschichte zwischen dem Inhaber des Teeshops und der jungen Frau. Der Film hat mich wahnsinnig beeindruckt, sowohl in Hinblick auf die Erzählung als auch das besondere Setting. Sehr neugierig war ich auch auf den Film „Another End“ mit Gael García Bernal und Bérénice Bejo, eine Zukunftsgeschichte.
Und der neue Andreas-Dresen-Film „In Liebe, Eure Hilde“?
Eine Geschichte über die Widerstandsbewegung Rote Kapelle zur Zeit der Naziherrschaft in Deutschland. Liv Lisa Fries ist unglaublich in der Rolle der Hilde Coppi. Eine feine Arbeit, sehr genau, sehr präzise.
Was war eigentlich Ihr größter Berlinale-Moment bisher?
Ich hatte viele große Momente, aber ob ich diesen einen Moment hatte … ich bleibe dabei, Joan Baez bei der Vorführung von „I Am A Noise“ auf dem roten Teppich getroffen zu haben, das war wunderbar. Wir haben uns wirklich unterhalten, es war nicht lang, aber ich hatte das Gefühl, sie hört hin, und wir konnten uns echt austauschen, dazu hat man auf diesem roten Teppich sonst nicht immer Gelegenheit. Normalerweise gibt es Shakehands, Sätze wie „Toll, dass Sie da sind“ und „Danke für die Einladung“, aber mit Joan Baez hatte ich ein echtes Gespräch. Das würde ich jetzt als meinen größten Moment empfinden.
Und der schlimmste?
Oje, es gab so viele Momente, wo man dachte, jetzt geht wieder was schief! Das ist für mich immer ein großes Thema, aber für die Außenwelt ist das meistens ja nicht wirklich sichtbar.
Das ist dann doch beruhigend. Wie halten Sie sich fit in diesen zehn tollen Festivaltagen, wo man nur wenig schläft und von einem Termin zum nächsten hetzt?
Nun, ich habe keinen Fitnesstipp, aber ich habe ein Faible. Ich trage auf dem roten Teppich immer nur Vintage-Kleider, ich kaufe nichts Neues. In den Wochen vor dem Festival stöbere ich also in allen Vintage-Läden in Berlin herum und suche mir mein Outfit zusammen. Und wenn ich mich dann an jedem Abend auf ein neues Outfit freue, das macht für mich das Vergnügen aus, den Abend zu beginnen.
Um Mitternacht gehe ich meist nach Hause, trinke nur wenig Alkohol und bin morgens dann wieder um 9.30 Uhr im Büro. Man muss sich diese schönen Momente geben, über die man sich freuen kann, und in meinem Fall ist es eben das Kleid, das ich jeden Abend auf dem Teppich trage, jedes Mal ein anderes.
Und nach der Berlinale?
Ich werde Tricia Tuttle noch ein halbes Jahr begleiten und unterstützend einarbeiten und bin dann ab September offen für alles, was kommt.