35 Jahre Mauerfall

„Die DDR und ich“: Wie der Mauerfall mich vor der dunklen Seite der DDR rettete

Rund um das Mauerfall-Jubiläum erzählen KURIER-Autoren von ihrem Verhältnis zur DDR. Hier: Stefanie Hildebrandt, die zehn Jahre alt war, als die Mauer fiel.

Author - Stefanie Hildebrandt
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Kinder sammeln in einem Wohngebiet in der Frankfurter Allee in Berlin Altstoffe.  Auch wir waren regelmäßig so unterwegs und empfanden den Dienst an der Gesellschaft als sinnvoll. 
Kinder sammeln in einem Wohngebiet in der Frankfurter Allee in Berlin Altstoffe. Auch wir waren regelmäßig so unterwegs und empfanden den Dienst an der Gesellschaft als sinnvoll. Thomas Uhlemann/DDR Fotorerbe

Das rote Kunstleder, das an den nackten Beinen im D-Zug zur Oma nach Thüringen klebt. Das Bohnerwachs auf dem Schulflur beim Appell am Montagmorgen. Der Geruch nach verbrannter Kohle über Pankow. Stolz über das blaue Pionierhalstuch, das Lob vor der Klasse. Der erste Trabant. Der erste Preis für ein Exponat bei der „Messe der Meister von Morgen“. Die Arbeiterfrauen in der LPG, die mich in den Ferien mit aufs Feld nehmen. Bitter der Trunk beim Neptunfest im Ferienlager des VEB Bergmann Borsig. Unschuldige Kinder-Freude über den Jeansrock und das Mickey-Mouse T-Shirt aus dem Westpaket.

Die DDR hat viele Erinnerungen, Gerüche und Farben in mein Gedächtnis geschrieben, seit mein Leben in diesem Land 1979 in einer Einzimmerwohnung in der Gaillardstraße in Pankow begann.

Meine Eltern baden mich in einer Plastewanne in der winzigen Küche, nachdem sie den Ofen angeheizt haben. Regelmäßig trabt meine Mutter zur KWV, der kommunalen Wohnungsverwaltung, um nach einer größeren Wohnung zu fragen. Mein Vater studiert neben der Arbeit in Wildau. Gleich hinter dem Haus beginnt der Todesstreifen, die Mauer an der Wollankstraße. Die größeren Kinder spielen Fußball in dieser Sackgasse, der ABV schaut zu und ich habe keine Ahnung von irgendwas.

Die DDR hat mich verschont, hat dem zehnjährigen Kind bis zu ihrem überraschend unblutigen Ende vorwiegend ihre angenehmen Seiten gezeigt. Über die dunklen Seiten sprechen die Erwachsenen erst nachher. Los lässt mich dieses Land, in dem meine Wurzeln liegen und die Erinnerungen meiner Eltern und Großeltern, bis heute nicht.

Pioniernachmittag, aber kein Wehrunterricht

Als die Mauer kurz nach meinem zehnten Geburtstag im November 1989 fällt, habe ich Pioniernachmittage kennengelernt, aber keine vormilitärische Ausbildung. Ich durfte meinen Kindertraum einfach weiterträumen, Tierärztin zu werden oder Buchhändlerin. Dass ein Studium nur nach Bedarf und für Linientreue möglich war, blieb für mich irrelevant. Eine Reise nach Ungarn und Urlaub an der Ostsee und im Thüringer Wald waren mir als Kind genug von der Welt.

Der Westen, den ich im Fernsehen und im Radio, in Päckchen und Zeitungen der Oma durchaus wahrnahm, haben dem Kind, das sich in der Enge der DDR behütet fühlte, in einer Gemeinschaft geborgen, dicke ausgereicht. Ich könnte heute nicht mehr sagen, ob ich damals überhaupt wusste, dass wir in einem Land lebten, das anders war. Das geteilte Deutschland war stinknormal für mich und im Zweifel wohnten wir sowieso in der besseren Hälfte. So viel hatte mich die Schule schon gelehrt.

Anstehen an der Telefonzelle auf der Warchauer Straße. Auch wir hatten zu Hause lange kein eigenes Telefon. Man ging zum Nachbarn, um jemanden anzurufen oder schrieb Briefe. 
Anstehen an der Telefonzelle auf der Warchauer Straße. Auch wir hatten zu Hause lange kein eigenes Telefon. Man ging zum Nachbarn, um jemanden anzurufen oder schrieb Briefe. Thomas Uhlemann/DDR Fotorerbe

Die DDR, das waren für mich die Menschen um mich herum, die Kittelschürzen und Blaumänner, die Männer, die beisammenstanden und quatschten, die Nachbarn im Haus, die Kinder auf dem Hof, nicht der Staat und seine Organe. Der hatte die Fühler nach uns Kleinen bisher nur verhohlen ausgestreckt.

Ich bin nochmal davon gekommen, weiß ich heute. Repressalien, Perspektivlosigkeit und Unfreiheit sind an mir vorübergegangen. Geblieben sind für mich der Sinn für Gemeinschaft, die Reduktion auf das Wesentliche und ein ausgeprägtes Desinteresse an materiellem Streben.

Sind die Westverwandten gönnerhaft?

November 1989, U-Bahnhof Gesundbrunnen, ein Kiosk, an dem mein Vater mir Süßigkeiten kauft - das ist meine erste konkrete Erinnerung an „drüben“. Im Osten stapeln sich derweil ausrangierte graue Schulhefte, die in der Schule herumliegen und die wir uns massenweise einstecken. Alles ist aufregend. Wir kaufen das erste Mal Weichspüler und bekommen Ausschlag. Ein junger Englischlehrer übernimmt die Klasse. Sind die Westverwandten, die uns die Einkaufstour im Karstadt spendieren, gönnerhaft? Nein, sie freuen sich einfach. Und wir uns doch auch.

Die Brüche um mich herum, Arbeitslosigkeit, Umbau und Abriss, erlebe ich nur als unterschwelliges Gefühl. Das Konkrete wird wieder vor mir verborgen, die Unsicherheit, die sich überschlagenden Ereignisse sind dennoch greifbar. Dieses Mitschwimmen auf der gigantischen Veränderungswelle, das Kopf über Wasser behalten, das muss meine Eltern unheimlich viel Kraft gekostet haben. Mir schenkte ihr mit sich selber Beschäftigtsein Freiheit.

Wieder erlebe ich in den Nachwendejahren vorrangig die positiven Seiten des Mauerfalls. Sprachreise nach England, Demokratie üben im selbstverwalteten Jugendzentrum, Stromern in den unfertigen Straßenzügen Berlins, CDs hören gehen beim World of Music am Zoo, Kneipentouren durch den unsanierten Prenzlauer Berg, mit dem Bus nach Paris. Wir Teenager inhalieren die unendlichen Möglichkeiten, spielen verschiedene Leben durch, noch frei von Angst und Leistungsdruck. Während uns die DDR Wurzeln gab, erleben wir nun, dass wir fliegen dürfen.

E-Auto in der DDR. Kinder wurden im Arbeiter- und Bauernstaat hofiert und indoktriniert. Sie waren die Zukunft. 
E-Auto in der DDR. Kinder wurden im Arbeiter- und Bauernstaat hofiert und indoktriniert. Sie waren die Zukunft. IMAGO / Ray van Zeschau

Während uns die DDR Wurzeln gab, erlebten wir nun, dass wir fliegen dürfen

Währenddessen landet die Generation der Eltern oft unsanft, sie haben ihr ganzes Leben in der DDR verbracht. Während die Großeltern noch an Zeiten vor dem Krieg anknüpfen konnten, ist ihnen unverhofft das komplette Fundament weggebrochen. Wie sie es dennoch geschafft haben, uns durch diese Zeiten zu bugsieren, nötigt mir Respekt ab.

Mich mit ihrem Alltag, ihrer DDR, auseinanderzusetzen, hilft mir, sie besser zu verstehen. Spätestens jetzt, mit eigenen Kindern, beantworte ich Fragen zu meiner Kindheit. Gespannt hören sie, dass ihre Mutter in einem Land geboren wurde, das es nicht mehr gibt. Und ich stelle mir vor, wie es gewesen wäre, weiter in der DDR zu leben. Hätte ich meinen Frieden gemacht, mit dem, was war, oder wäre ich gegen die Mauern gerannt? Ich habe das Glück, ohne Groll an die DDR denken zu dürfen. Und ich bin mir bewusst, dass es vielen anders geht. In diesem Spannungsfeld zwischen Verklären und Verteufeln geben wir jetzt den Staffelstab weiter an die nächste Generation. Ich bin gespannt, was bleiben wird von den 40 Jahren DDR. ■