35 Jahre Mauerfall

Der Anfang vom Ende der DDR: Was aus unseren Träumen wurde

Rund um das Mauerfall-Jubiläum erzählen KURIER-Autoren von ihrem Verhältnis zur DDR. Hier: Norbert Koch-Klaucke über die Wünsche der DDR-Bürger.

Author - Norbert Koch-Klaucke
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Mit voller Euphorie die Mauern einreißen, die Ost und West trennten: So war das vor 35 Jahren auch an der Bornholmer Straße, als mit dem Mauerfall das Ende der DDR begann. Viele Träume und Hoffnungen hatten die Menschen.
Mit voller Euphorie die Mauern einreißen, die Ost und West trennten: So war das vor 35 Jahren auch an der Bornholmer Straße, als mit dem Mauerfall das Ende der DDR begann. Viele Träume und Hoffnungen hatten die Menschen.Votos-Roland Owsnitzki/imago

Als ich ein kleiner Junge war, träumte ich davon, recht schnell alt zu werden. Am besten gleich 65, dann dürfte ich ja als Rentner, wie damals meine Großeltern, endlich auch mal nach „drüben“, und den Funkturm, den Ku’damm oder die Gedächtniskirche sehen. Ja, solche Träume konnte man schon haben, wenn man in der DDR geboren wurde und sich schon als Kind eingesperrt fühlte.

Von Berlin-Adlershof aus war die Mauer nicht weit. Eine Viertelstunde mit dem Fahrrad, dann sah ich das Monstrum aus Beton und Stacheldraht. Warum sie die Menschen in einer Stadt trennte, war für mich als Kind genauso unbegreiflich, wie später als Heranwachsender die Tatsache, dass man nur in die Pioniere und in die FDJ ging, oder an dem Wehrkundeunterricht gegen seinen Willen teilnahm, damit es keine Scherereien in der Schule gab und die Eltern staatlicherseits keine Probleme bekamen. Das Schlimmste: Man passte sich einfach dem System an, um seine Ruhe zu haben, baute sich in der Diktatur seine eigene heile Welt auf.

Zum Glück musste ich nicht erst 65 werden. Ich war 23, als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, und uns allen im Land plötzlich die Welt offen stand. An diesem historischen Abend, der den Anfang vom Ende der DDR markierte, fingen die meisten von uns an zu träumen.

Der Tag des Mauerfalls: Wir im Osten hatten so viele Träume

Von einem neuen Land, das wir mit allen Deutschen, woher sie auch kamen, gestalten wollten. Indem es nie wieder eine Diktatur geben sollte, in der die Machthaber ihr eigenes Volk bespitzeln. Wir träumten von Freiheit und davon, freie Entscheidungen über das eigene Leben treffen zu können; von einem Land ohne Grenzen, in dem auch die Meinung Andersdenkender akzeptiert wird, ohne Repressalien seitens eines Regimes befürchten zu müssen, wie es in der DDR war.

Der 10. November 1989: Am Morgen nach dem Fall der Berliner Mauer zeigen Berliner nahe dem Brandenburger Tor auf einem Transparent ihre Träume und Wünsche.
Der 10. November 1989: Am Morgen nach dem Fall der Berliner Mauer zeigen Berliner nahe dem Brandenburger Tor auf einem Transparent ihre Träume und Wünsche.Teutopress/imago

Natürlich drehten sich unsere Träume auch um all die Orte, zu denen wir alle nun reisen konnten. Und wir erhofften uns, dass mit dem Fall des Eisernen Vorhanges die Welt endlich friedlicher wird, es keine Kriege mehr gibt, weil aus einstigen Feinden Freunde werden.

Bei all diesen Erwartungen, Hoffnungen und Träume stand für mich fest: Ich wollte die DDR nicht mehr. Ich trauere ihr auch heute nicht nach. Denn mit der DDR setze ich die SED-Diktatur gleich, die zu Recht untergegangen ist. Dagegen ist meine ostdeutsche Heimat geblieben, in der ich zu DDR-Zeiten meine Freiheitsnischen suchte und fand.

Mauerfall vor 35 Jahren: Das wurde aus unseren Träumen und Hoffnungen

Doch was ist aus den Träumen von vor 35 Jahren geworden? Ja, wir können reisen, wohin wir wollen. Jeder kann frei seine Meinung sagen, ohne dafür in den Knast zu kommen. Dafür wird man aber gleich niedergeschrien und im Internet oft mit Hass überschüttet, wenn man Überlegungen äußert, die anderen nicht in den Kram passen. Da merkt man schon, dass viele Träume von einst nicht in Erfüllung gingen.

Der Wunsch nach Frieden erfüllte sich nicht. Der aktuelle Krieg in der Ukraine und der Nahost-Konflikt sind die traurigen Beispiele dafür, dass auf der Welt immer noch Waffengewalt regiert und keiner dem Frieden eine Chance gibt.

Aber auch im eigenen Land geht es nicht sehr friedvoll zu. Vor allem im Osten Deutschlands hat man das Gefühl, dass wir nun wieder eine Regierung haben, die komplett an den Problemen der Menschen vorbei handelt. Jetzt geht in diesen Tagen die Ampel-Koalition im Streit unter.

Auch einen Hauch von Diktatur spürt man wieder. Wenn Eliten sich aufschwingen und anderen aufzwingen wollen, welche Meinungen oder welche Worte die Deutschen künftig sagen dürfen und welche nicht. Wenn Goethe in einem seiner Werke den Begriff „Oberindianer“ verwendet hätte, würden sie möglicherweise auch noch die Gedichte des deutschen Dichterfürsten umschreiben oder sogar verbieten wollen.

Das Schlimmste ist, dass sich der große Traum der einstigen DDR-Bürger bis heute nicht erfüllt hat, im wiedervereinten Deutschland als gleichberechtigt akzeptiert zu werden. Laut einer Umfrage der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur erklären 60 Prozent der Ostdeutschen, dass ihre Lebensleistung ungenügend gewürdigt wurde und man immer mehr vergisst, dass es dem Mut vieler DDR-Bürger zu verdanken war, der zum Mauerfall führte. Alle die Frauen und Männer, die sich gegen den SED-Staat auflehnten und im Herbst 1989 jeden Montag auf den Straßen demonstrierten – oft unter dem großen Risiko, am Ende in Stasi-Gefängnissen zu landen.

Der Ritt auf der Mauer mit einer DDR-Fahne ohne Emblem: Der 9. November 1989 war der Anfang vom Ende der DDR.
Der Ritt auf der Mauer mit einer DDR-Fahne ohne Emblem: Der 9. November 1989 war der Anfang vom Ende der DDR.imagebroker/imago

Dass einige aber immer noch meinen, der Westen hätte uns nach dem Mauerfall überrollt, verstehe ich nun gar nicht. Ehrlich gesagt waren es doch wir selber, die sich gleich nach dem Mauerfall den Westen in den Osten holten!

Kaum war die Mauer weg, wollte man lieber mit einem Schrott-Mercedes als mit einem Trabi fahren

Erinnern Sie sich noch, wie wir plötzlich begannen, alles das haben zu wollen, was auch die Menschen im Westen hatten? „Scheiß Ost“ lautete sofort das Motto. Kaum war die Mauer weg, nahmen so manche ihr sauer erspartes Ost-Geld und kauften Westautos, weil man lieber mit einem Schrott-Mercedes als mit einem Trabi fahren wollte. Die bunten Westprodukte mit viel Geschmacksverstärkern aus den Supermärkten waren uns auf einmal lieber als die aus dem Konsum.

Ost-Künstler waren tabu. Wir wollten doch nur noch die West-Stars hören und sehen und nicht mehr Puhdys, Karat und Co. Und wozu im nächsten Urlaub in der schönen Heimat bleiben, wie gehabt in den Thüringer Wald oder an die Ostsee fahren? Die Welt war doch jetzt ohne Mauer für uns alle zum Reisen nah! Alles schon vergessen?

35 Jahre nach Mauerfall: Die DDR gibt es zu Recht nicht mehr – aber unsere ostdeutsche Heimat ist geblieben

Aufgewacht sind wir, als die Ostdeutschen im frisch vereinten Deutschland um die Anerkennung ihrer Lebensleistung kämpfen mussten. Als junger Mensch hatte man wenig Probleme. Aber die Älteren mussten beweisen, dass sie in der DDR hart gearbeitet und nicht Däumchen gedreht haben.

Abis, Hochschulabschlüsse, Berufsabschlüsse kamen auf den Prüfstand, ob diese überhaupt den Maßstäben des einstigen Westens entsprachen, als wären wir im Osten alle doof gewesen. Das war erniedrigend.

Aus diesen Momenten der Schmach heraus begannen wir die Dinge wieder zu lieben, die wir nach dem Mauerfall wie kleine Kinder verschmäht hatten. Plötzlich will man wieder den Geschmack des Ostens, so mancher fährt wieder stolz Trabi und man hört erneut die Puhdys – und das finde ich auch richtig so.

Warum soll man seine Heimat, und alles was an guten Erinnerungen dazu gehört, verleugnen? Schließlich waren sie ein Teil eines schönen Lebens, dass wir abseits von der SED-Diktatur zum Glück auch hatten. Stattdessen will die Politik nun auch diese Zeugnisse ostdeutscher Vergangenheit abreißen lassen, wie zum Beispiel das Sport- und Erholungszentrum in Berlin.

Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört, hatte der große SPD-Mann Willy Brandt kurz nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 gesagt. 35 Jahre später hoffe ich, dass sich dieser Traum nun endlich erfüllt. ■