Unfassbare Geschichten

Wie erlebten Berliner den Mauerfall? Erinnerungen an die Nacht der Nächte

Der Mauerfall: Ein Moment, der Millionen Leben veränderte. Zeitzeugen erzählen dem KURIER von Freude, Erinnerungen und einer neuen, ungeahnten Freiheit.

Teilen
Die große KURIER-Umfrage zum Mauerfall – so erinnern sich die Berliner.
Die große KURIER-Umfrage zum Mauerfall – so erinnern sich die Berliner.Veronika Hohenstein

Der Tag des Mauerfalls im November 1989 – er prägte Millionen Menschen und deren Geschichten und Schicksale. Wenn sich heute Unterhaltungen um den historischen Tag und die Zeit ringsherum drehen, dann lautet eine Frage, die immer wieder auftaucht: Wo warst du? Jeder, der den Mauerfall erlebte, kann auch 35 Jahre später berichten, wo er sich gerade aufhielt, wie er von der Mauer-Öffnung erfuhr, wie er die stürmische Zeit erlebte. Für viele war das, was passierte, einfach nicht zu fassen, andere hetzten atemlos in Richtung Grenze, getrieben von der Angst, die Mauer könnte sich wieder schließen. Noch heute gehen die Erinnerungen der Wiedervereinigung unter die Haut.

Erinnerungen an den Mauerfall: So denken die KURIER-Leser an die Nacht der Nächte zurück

Der KURIER wollte wissen, wo unsere Leserinnen und Leser den Mauerfall erlebten – wo sie waren, als sich die Grenzen öffneten, was sie dachten. Viele tolle Nachrichten haben daraufhin unsere Redaktion erreicht. Nachrichten, aus denen deutlich wird, dass die damalige Zeit so prägend gewesen sein muss, dass viele noch genau davon berichten können. Nachrichten wie die von KURIER-Leserin Ilonka Alpari, die damals in Niederschönhausen lebte und den Tag mit einem ganz anderen Highlight verbrachte: ihrem eigenen Geburtstag.

„Ich wurde an diesem Tag 39 Jahre alt“, schrieb sie unserer Redaktion. „Ich hatte Gäste und wir feierten ausgiebig.“ Durch die Party passierte, was passieren musste: Die Gruppe verpasste den Fall der Mauer. „Erst am nächsten Tag, ein Freitag, bekam ich einen Anruf mit der Frage, ob ich schon ,drüben‘ war. Ich hielt es für einen Witz“, erzählt Alpari. Als sie erfuhr, was passiert war, habe es ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. „Falls ich noch nicht ganz nüchtern war – jetzt war ich es.“ Dann sei alles sehr schnell gegangen: Schon einen Tag später ging sie zum Grenzübergang Bornholmer Straße, ging dort zusammen mit Tausenden Menschen erstmals in den Westen. „Dieses Gefühl kann man nicht beschreiben, man muss es erlebt haben. Ich habe es, wenn auch verspätet.“

Am Grenzübergang Bornholmer Straße spielten sich in den Tagen nach dem Mauerfall unglaubliche Szenen ab.
Am Grenzübergang Bornholmer Straße spielten sich in den Tagen nach dem Mauerfall unglaubliche Szenen ab.BRIGANI-ART/imago

Auch Hans-Joachim Augustin aus dem Kurort Jonsdorf in Sachsen meldete sich beim KURIER – als die Mauer fiel, sei er in der Marienkirche in Zittau gewesen. „Dort wurden die Gedächtnisprotokolle der Aktionen vom 7. Oktober 1989 verlesen“, schreibt er. An dem Tag wurde der 40. Jahrestag der DDR-Gründung gefeiert – doch während der offiziellen Feierlichkeiten kam es in zahlreichen Städten zu Protesten gegen das SED-Regime. Als Augustin nach Hause kam, habe seine Frau ihn empfangen. „Sie sagte: Setze dich hin und sieh in den Fernseher, die haben in Berlin die Mauer geöffnet.“ Seine Antwort sei „Du spinnst doch!“ gewesen. Doch dann sah er die Berichte – „und mir liefen die Tränen“. Als kleines Junge habe er im Alter von zehn Jahren den Bau der Maler erlebt – und das habe er nie vergessen. „Immer, wenn ich in Berlin war, war ich auch am Brandenburger Tor – und blickte ins Unerreichbare.“

KURIER-Leser erinnern sich auf Facebook an ihre Mauerfall-Erlebnisse

Auch auf Facebook diskutierten die KURIER-Leser eifrig, teilten ihre Erinnerungen. KURIER-Leser Detlef Dahms lebte im Westen, als die Mauer fiel. Er war in Neukölln, als ein Kumpel ihn anrief, um ihm zu sagen, dass die Mauer offen ist. „Ich wollte es erst gar nicht glauben und sagte: Ich muss morgen arbeiten.“ Doch die Freunde rafften sich auf, kauften Sekt für unterwegs, fuhren zur Bornholmer Straße. Und plötzlich seien sie mittendrin gewesen im Mauerfall-Wahnsinn! Uns kamen Menschenmassen und Trabis entgegen, man hat wildfremde Leute umarmt“, schreibt Dahms. Die Nacht sei sehr kurz gewesen – und auch am nächsten Morgen habe man noch nicht begreifen können, was eigentlich passiert war, schließlich war es für ihn seit der Kindheit normal, mit der Mauer zu leben. „Wenn ich jetzt daran denke, bekomme ich Gänsehaut.“

Eva Koch (85), aus Langenfeld: „Ich war frisch verliebt – er blieb in der DDR.“
Eva Koch (85), aus Langenfeld: „Ich war frisch verliebt – er blieb in der DDR.“Veronika Hohenstein

Eva Koch (85) und die Liebe, die die Mauer überdauerte

Wir wollten auch wissen, was die Berlinerinnen und Berliner auf der Straße sagen, welche Erinnerungen sie an den Mauerfall haben. Vor dem Brandenburger Tor begegnet der KURIER Eva Koch, 85 Jahre alt. Sie kommt aus dem westlichen NRW, Langenfeld, ist zu Besuch in Berlin. Sie wuchs in der DDR auf und floh mit 17 Jahren, gezwungenermaßen, als ihre Eltern alles hinter sich ließen und den Osten verließen. „Ich war frisch verliebt – er blieb in der DDR“, erinnert sich Eva Koch. „Ich erinnere mich gut an den Mauerfall, ich habe es im Fernsehen mitverfolgt. Das ging ja wochenlang, das war das Tagesthema, immer! Jeden Tag!“  Sie erzählt weiter: „Erst war da die Revolution, und dann kippt das System, und wir waren vereint, ohne Blutvergießen.“

Eva Koch wird still, erinnert sich zurück: „Eigentlich ist das ja so ungeheuer, wo gibt es sowas weltweit? Das ist ein so unglaubliches geschichtliches Ereignis. Es geht mir heute noch unter die Haut.“ Hat sie ihre große Liebe nach er Wende noch einmal getroffen? „Dass ich wegmusste, war wirklich schlimm für mich. Nach der Wende haben wir uns einmal in Berlin getroffen, aber nur sehr kurz. Er wollte nicht im Westen bleiben.“ Sie wischt eine kleine Träne von der Backe. Sie kam heute nach Berlin, um das Brandenburger Tor nochmal zu sehen.

Walter Mörtel (60), aus Bayern: „Wir haben gewettet, dass wir den Mauerfall noch erleben dürfen.“
Walter Mörtel (60), aus Bayern: „Wir haben gewettet, dass wir den Mauerfall noch erleben dürfen.“Veronika Hohenstein

Walter Mörtel (60): „Ein Wunder, dass richtungsweisenden Prozesse friedlich möglich sind“

Walter Mörtel (60) kommt aus Bayern, ist beruflich zu Besuch in Berlin. Heute ist er Vizepräsident für Sales Europe, aber Ende der 80-er Jahre war er bei der Bundeswehr. „Als die Demonstrationen in Leipzig losgingen, haben wir bei der Bundeswehr gewettet, dass wir den Mauerfall noch erleben dürfen – aber so schnell, im gleichen Jahr? Damit haben wir wirklich nicht gerechnet.“ Und die Nacht des Mauerfalls? Wie war es? „Ich kann mich gut erinnern“, sagt er. „In den Nachrichten hieß es plötzlich: Die Mauer ist geöffnet ... und dann fragte ein Reporter, was das konkret bedeutet.“ Kannst du dich an das Gefühl erinnern? „Ja, ich fühlte mich euphorisch! Also, dass solche richtungsweisenden Prozesse doch friedlich möglich sind. Es war ein Wunder!“

Michael (55), aus West-Berlin: „Als die Mauer fiel, war ich in New York auf einer Party.“
Michael (55), aus West-Berlin: „Als die Mauer fiel, war ich in New York auf einer Party.“Veronika Hohenstein

Michael aus Westberlin (55): „Die Nachricht erreichte mich auf einer Party in New York“

Der Westberliner Michael befand sich 1989 in Ithaca, New York. „Ich war auf einer Party, als ein paar Studenten zu mir kamen und fragten: Du bist doch aus Berlin, die Mauer ist gefallen!“ Er schüttelt den Kopf vor Lachen. „Da habe ich sofort Leute in Berlin angerufen, und teilweise wussten die das noch gar nicht. Das war wirklich crazy.“ Erst neun Monate später kehrte er zurück und fand ein anderes Berlin vor. „Ich habe mich aufs Fahrrad geschwungen und bin im Osten herumgedüst. Die Wendezeit erlebte ich als unglaublich lebendig und spannend.“ Michael erzählt weiter: „Aber inzwischen werden ja wieder neue Mauern in der Welt gebaut … In Mexiko oder an den Außengrenzen der EU. Gefühlt haben sich die Grenzen nur verschoben. Es ist schade.“

Keko Tonial (47) aus Italien und sein Berliner Sohn Cosimo: „Die Grenzen machten keinen Sinn – wir brauchten die Freiheit.“
Keko Tonial (47) aus Italien und sein Berliner Sohn Cosimo: „Die Grenzen machten keinen Sinn – wir brauchten die Freiheit.“Veronika Hohenstein

Keko Tonial (47): „Eine Kettenreaktion der Freiheit“

Keko Tonial ist 47 Jahre alt, Musiker und gebürtiger Italiener. Für ihn war der Mauerfall ein prägender Moment, obwohl er damals erst zwölf Jahre alt war. Er erinnert sich lebhaft daran, wie er mit seiner Familie vor dem Fernseher saß und die Nachrichten sah. „Ich war aufgeregt. Ich verstand noch nicht alles, aber ich spürte, dass da etwas ganz Großes passierte“, erzählt er dem KURIER auf Englisch.  „Die Grenzen machten keinen Sinn mehr – wir brauchten die Freiheit.“ Zwischen Italien und Jugoslawien, den Stätten Gorizia und Nova Gorica, erlebte auch seine Familie, wie Grenzen in Europa durch den Fall der Berliner Mauer auf einmal bedeutungslos wurden: „Es war eine Kettenreaktion der Freiheit.“ Und dann fing das Reisen so richtig an. 

Angelika König (72), aus Ost-Berlin: „Ich dachte, ich hab nicht richtig gehört. Das kann doch nicht wahr sein.“ Sie hat die Anstürme auf die DDR-Grenzübergänge vom Charitéfenster aus beobachtet.
Angelika König (72), aus Ost-Berlin: „Ich dachte, ich hab nicht richtig gehört. Das kann doch nicht wahr sein.“ Sie hat die Anstürme auf die DDR-Grenzübergänge vom Charitéfenster aus beobachtet.Veronika Hohenstein

Angelika König (72): „Ich habe von Fenster der Charité zugeschaut“

Die gebürtige Ostberlinerin Angelika König hat ihr ganze Leben auf der Kinderstation der Charité als Krankenschwester gearbeitet. Sie erinnert sich an den Mauerfall: „Das ging alles so schnell, aber gefreut habe ich mich natürlich.“ Sie erzählt weiter: „Ich war in der Arbeit, und abends habe ich es im Fernsehen gesehen. Ich dachte, ich hab nicht richtig gehört.“ Sie schüttelt den Kopf: „Das kann doch nicht wahr sein!“ Dann habe sie ihre Zwillingsschwester angerufen, und ihren Vater. „Als alle rüber gestürmt sind, habe ich das von Fenster der Charité aus zugeguckt. Ich dachte: Da muss ich auch mal meine Tante besuchen und dann habe ich das erste Mal ihre Wohnung gesehen.“

Genau solche Geschichten sind es, die auch heute noch in vielen Köpfen lebendig werden, wenn man mit den Menschen, die es erlebten, über die Nacht des Mauerfalls spricht. Geschichten wie die unserer Leserin Heidi Pehlke, die auf Facebook von ihren Erinnerungen schrieb. Sie habe in Reinickendorf ungläubig vor dem Fernseher gesessen und überlegt, ob sie zur Bornholmer Straße fahren soll. „Ich dachte aber immer an meine Cousine, die sich bestimmt aus Hellersdorf auf dem Weg macht.“ Gegen 0.30 Uhr habe sie mit ihrem Mann plötzlich vor der Tür gestanden. „Die sind an der Invalidenstraße rüber und ein freundlicher ,Wessi‘ hat sie bis nach Reinickendorf begleitet. Sie hatten ja keinen Stadtplan.“ Das sei ein tolles Erlebnis gewesen. „Ich habe mich damals gefreut und finde es jetzt noch toll. Für mich ist der Mensch entscheidend, nicht ob Ost oder West.“