„Diese Fotos von Berlinern mit Löwenbabys auf dem Schoß, woher kommen die?“, frage ich meinen KURIER-Kollegen Norbert Koch-Klaucke während unserer täglichen Berlin-Konferenz. „Was? So eins hab ick oooch!“, ruft er. „Und? Woher kommt es?“, hake ich nach ... „Naja, das konnte man zu DDR-Zeiten im Tierpark so machen lassen.“
Wenige Tage später ist der KURIER im schönen Köpenick und klopft beim Urberliner Michael Barz an. Vor seinem Haus steht eine blaue Bank, manche können sich vielleicht noch an genau diese Bank erinnern – auf ihr wurden viele der Tierpark-Fotos geschossen. Drinnen, auf dem kleinen Tisch beim Fenster, liegen Bilder: Elefanten, Rentiere, Nashörner, Schlangen, Affen, Wölfe und Co. Michael Barz ist mit all diesen Tieren per Du. Immer nah dran. Krault dem Wolf den Bauch, dem Nashorn das Horn und den Löwen- und Tigerbabys die Pfoten.

Der heute 81-jährige Köpenicker hat sich mit all diesen wilden Tieren gern auch mal selbst fotografieren lassen, man mag glauben, er sei einmal um die Welt gereist. Aber diese Fotos wurden abseits von Afrika geknipst. Tatsächlich kann er die paar Länder, die er in seinen Leben besucht hat, an einer Hand abzählen. Denn all diese Fotos entstanden im Herzen der Hauptstadt der DDR. Wie viele ehemalige Ostberliner vor seiner Linse standen und mit seinen Löwen gekuschelt haben, weiß er nicht, aber jährlich waren es Tausende. Und das über Jahrzehnte hinweg!
Das bewegte Leben des DDR-Tierpark-Fotografen: Michael Barz im großen KURIER-Interview
Aber zurück zum Anfang. Wir stoßen mit Apfelschorle an und Michael beginnt zu erzählen. Noch zu Kriegszeiten, im Jahr 1943, erblickte er das erste Mal den Berliner Himmel. Er und seine Vorfahren waren einfach schon immer Köpenicker, erzählt er stolz. Sein Papa war Schneider, „unten im Keller des Hauses“, auch Michael entschied sich nach der 8. Klasse, diesen Beruf zu ergreifen.

Sein Fotointeresse entdeckte er schon als 12-jähriger Bursche: „Ich hatte eine alte Perfekta, und die hatte einen Rollfilm mit 12 Fotos, und nur eine Einstellung. Viele Fotos waren deswegen auch verwackelt.“ Die Fotos konnte er im Kellerraum eines Freundes, der zu einer Dunkelkammer umfunktioniert war, entwickeln. Schon damals streunte er im Tierpark herum: „1 Mark Eintritt und 50 Pfennig extra für die Fotoerlaubnis.“
Zu DDR-Zeiten gab es einen Jugendklub im Tierpark Berlin, auch mit einer Sparte für die Tierfotografie. „Herr Engel organisierte diesen Spaß“ – dass dieser Mann sein zukünftiger Schwiegervater und Chef werden würde, ahnte damals noch niemand. Hinter den Kulissen des Tierparks schulten die Jugendlichen ihr Fotoauge.
Er zahlte 1000 Ostmark pro Löwe, zog die Tiere mit der Flasche groß
Eines Tages fragte der Herr Engel, ob Michael für ihn arbeiten wolle. Und als er seinen kargen Schneiderlohn mit dem Fotografenlohn verglich, sagt er sofort zu. Im Jahr 1964 war er zum ersten Mal auf dem Stand, als Hilfsarbeiter. Er hob die kleinen Löwen auf die Schöße der Kinder, die auf der blauen Bank für die Praktika-Kamera lächelten. Nur selten waren die Katzen kratzbürstig, manchmal musste er mit seinem Lederhandschuh in den Mund der Raubkätzchen fassen, um ihren verspielten Biss in Stoffe und Klamotten zu lösen. „Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis mit Herrn Doktor Heinrich Dathe, dem Tierpark-Direktor“, sagt Barz.
Und woher kamen die Löwen? „Die Löwen, die wir mit der Flasche großgezogen haben, haben wir gekauft, wenn sie sechs Wochen alt waren. Pro Löwe kostete das 1000 Ostmark. Entweder kamen die von Cottbus oder Leipzig, die waren ja bekannt für ihre Löwenzucht.“ Die Löwen wohnten übrigens im Garten, erst bei Herrn Engel, später aber auch in Köpenick. Als die Löwen zu groß und schwer zum Fotografieren wurden, wurden sie an Zoos und Tierparks im Land weiterverkauft. Durch Dr. Dathes Garten wurden die Löwenbabys jeden Morgen im Bollerwagen zum Tierpark gezogen. Damit die kleinen Löwen sich vom Fotoshooting ausruhen konnten, hatte Michael Barz immer zwei dabei.

Hattest du auch einen Lieblingslöwen? „Sultan, mit ihm bin ich abends im Kiez auch spazieren gewesen, das waren Zeiten.“ Michael lacht, und schüttelt den Kopf. Leider bekam Sultan ein paar soziale Problemchen als ausgewachsene Raubkatze. „Aber auf mich hat Sultan immer gehört.“ Wann wurde denn so ein Löwe gefährlich? „Bis zu einem halben Jahr konnte man die ganz gut handeln.“ Wie viele Löwen er im Laufe der Jahre besessen hat, weiß er nicht mehr, er schätzt, dass es zwischen 40 und 50 waren.
Liebe des Lebens im Tierpark gefunden: „Ich spielte den Tröster, und das hat sich gelohnt“
Das Fotogeschäft mit den Raubkatzen, zwischendurch auch Tigerbabys, lief sehr gut. Die Menschen standen lange Schlange für diese besonderen Fotos. 5 Mark, und man durfte mit den Kätzchen kuscheln und bekam ein exotisches Foto in schwarz-weiß nach Hause geschickt. „Das war viel Arbeit, die Fotos wurden in Friedrichshain entwickelt, das waren paketweise Fotos und wir kauften blockweise Briefmarken.“
Nach fünf Jahren machte Michael Barz dann seinen Facharbeiter und dann durften andere die Löwenbabys schleppen. Michael stand ab sofort hinter der Kamera – als Fotograf. Und nicht nur kuschelige Kätzchen versüßten die 60er-Jahre. Die Bekanntschaft mit seiner Kollegin Marlies, die mit einem anderen unglücklich verlobt war, entwickelte sich zur Liebe seines Lebens. „Ich spielte den Tröster, und das hat sich gelohnt“, sagt er und schmunzelt. 1968 stand in der „Abendzeitung“, dass der Tierparkfotograf einen Engel namens Marlies heiratete, und so wurde sein Chef Herr Engel auch sein Schwiegervater. Auch auf der Hochzeit durften die kleinen Raubkätzchen natürlich nicht fehlen.
Raubkatzen in Kinderarmen: „Eigentlich ist nie etwas Ernstes passiert“
Es folgten erfolgreiche und lukrative Jahre. 1981 übernahm er das Unternehmen komplett vom Schwiegervater, der nun in Rente ging. Aber: Sind diese Löwen nicht gefährlich? „Sie sind nicht böse, aber ein wenig nervös.“ Vorfälle gab es wenige. Manchmal konnten sie kratzbürstig sein. Mal wurde auch jemand gebissen, „ausgerechnet die kam aus dem Westen, wollte irgendwelche Tollwutimpfungen, ach ... die machte Probleme“. Er fährt fort: „Aber eigentlich ist nie etwas Ernstes passiert.“
Wie viele DDR-Kinder seine Fotos in ihren Kinderalben kleben haben, ist für ihn sehr schwer einzuschätzen, aber es ist die Rede von vielen Tausenden. Dann kam die Wende, und diese brachte enorme Kundenverluste mit sich. „Die Leute mussten wohl zu Beate Uhse, um da ihr Geld zu lassen“, sagt er grinsend. 1994 wurden die allerletzten Löwenfotos auf den Knien der Kinder gemacht. Michael, mittlerweile zweifacher Vater, musste sich eine neue Aufgabe suchen. „Ich sehe mich als Wendegeschädigten“, sagt er. Denn das Ende im Tierpark verlief nicht reibungslos und war für ihn schwer zu verkraften. Michael empfand es als große Ungerechtigkeit.

DDR-Zeiten im Berliner Tierpark: Haben Sie noch Fotos?
„Heute könnte man so ein Business nicht mehr haben, auch aus Tierschutzgründen nicht. Aber unseren Löwen ging es immer gut, die Zeiten haben sich halt geändert“, sagt er. Als er dann arbeitslos war, bemühte er sich, neue Aufgaben zu finden. Die Air Show Flying Legends Germany zogen in den 1990er Jahren durch ganz Deutschland – diese fotografierte er von nun an. Ich hatte die Gelegenheit, in alten Maschinen aus dem Zweiten Weltkrieg zu fliegen. Michael Barz hat einen Hang zu außergewöhnlichen Aufgaben.
Michael überlegt, ob er über die Zeit im Berliner Tierpark ein Buch schreiben sollte. Noch heute besucht er regelmäßig und gerne dort die Tiere. „Aber meine Ehrenkarte läuft dieses Jahr ab, dann hole ich mir wohl so eine Jahreskarte“, murmelt er. Heute hat Michael einen großen Traum – gerne würde er einmal nach Irland und Schottland reisen. Seine Rente reicht aber kaum für solche Abenteuer, „mal gucken, ob ich das noch erleben darf“.

Seine geliebte Marlies verstarb im Jahr 2020 an einer unheilbaren Krankheit. „Ich vermisse sie sehr!“ Immer noch verbringt der 81-Jährige viel Zeit mit Fotografien. Als wir über sein Interesse für Flugzeugfotografien sprechen, verstehe ich, dass ein vollständiger Rückblick auf dieses bunte Berliner Leben den Rahmen der großen KURIER-Reportage sprengen würde. Ein Buch ist wohl doch keine schlechte Idee.