Für mich war Deutschland immer ein Land. Geboren in den späten 90ern, aufgewachsen als Kind der Nachwendezeit, mit westdeutschen Eltern, die meine Jugend im Ausland prägten – diese klare Trennung zwischen Ost und West war für mich nie ein Thema –aber worum geht es wirklich bei all diesem Ost-West-Hickhack? Wir sind doch ein Land, oder etwa nicht?
Die Berührungspunkte zum Osten waren für mich in meinen bisherigen Leben minimal. In der Schule hörte ich natürlich davon. Von der DDR, der Mauer, der Stasi. Das Wort allein klingt gruselig. Aber ist das nicht schon seit 35 Jahren Geschichte? Für mich ist Deutschland seither ein vereintes Land – so einfach habe ich es mir immer gemacht. Oder wusste ich es einfach nicht besser?
Ihr im Osten habt es geschafft, das geteilte Deutschland friedlich zu vereinen – und das feiern wir am 9. November, zum 35. Jubiläumstages des Mauerfalls. Wenn ich die Fotos und Videos vom Mauerfall anschaue, bekomme ich Gänsehaut! Und wie ich Deutschland heute verstehe, greift es als Ganzes. Aber dass Deutschland immer noch mit juckenden Narben kämpft, konnte einem Nachwende-West-Kind wohl entgehen. Diese naive Einstellung veränderte sich erst, als ich Anfang dieses Jahres anfing, für den Berliner KURIER zu schreiben.

Nur weil 35 Jahre seit der Wiedervereinigung vergangen sind, ist nichts „abgeschlossen“
Neugierig auf die geschichtsträchtige Hauptstadt, und interessiert, wie eine echte Kult-Zeitung im Herzen Berlins am Puls der Geschehnisse arbeitet, zog es mich aus dem skandinavischen Norden nach Berlin. Aber das Leben im Hier und Jetzt macht einfach deutlich mehr Sinn, wenn man den Kontext der Geschichte bei sich trägt. In Berlin kam ich ohne Umwege in Kontakt mit dem, was die DDR mit Menschen gemacht hat. Floskeln legte ich schnell ab, denn das, was ich als „abgeschlossen“ sah, lebt weiter.
Danke KURIER-Leser, für eure Aufklärungsarbeit!
Begegnungen mit den Leserinnen und Lesern des KURIER, die ich auf Berlins Straßen oder durch Interviews treffen darf, sind für mich eine große Bereicherung. An dieser Stelle, liebe Grüße – ich bin dankbar, dass meine Unwissenheit oft mit Geduld empfangen wird. Danke, dass ihr mir so offen erzählt, wie es war und immer noch ist. Die Menschen in Berlin haben mir mehr beigebracht als der Schulunterricht.
Denn diese Gespräche belehrten mich schnell, dass Deutschland noch viel Arbeit vor sich hat. Die Teilung Deutschlands wird nicht nur durch meinen knapp ausreichendem Geschichtsunterricht in der achten Klasse oder Besuche in Museen wachgehalten, sondern lebt in den Menschen weiter. Die Reduzierung auf das, was schlimm war in der DDR, hilft wenig, um heute zu verstehen, warum viele immer noch zwischen Ost und West unterscheiden: Weniger geht es um die Ungerechtigkeiten von damals, vielmehr um die Leidtragenden von heute.

„Ich ging einfach mal davon aus, dass alle hübsch gleichberechtigt sind“
Ich glaube zu verstehen, dass Ost und West wie zwei Geschwister sind, wo das eine Geschwisterchen sich so fühlt, als müsse es ständig um Anerkennung und Identität ringen. Wie ätzend, wenn das wirklich so ist. Angleichungen der Lebensverhältnisse hätten über die letzten drei Jahrzehnten doch schon geschehen müssen, oder? Der Osten kam zum Westen, aber kam der Westen auch zum Osten? Deutschland ist vereint, aber vielleicht reicht die Einheit eben nur für die Oberfläche, die mich Nachwendekind lange trog.
Nachbarn und Bekannte, Freunde und Verwandte – und doch Ossis und Wessis. Habt Verständnis: Ich bin fast zwei Generationen zu spät ... Doch noch nie waren mir diese zwei Wörter so präsent, wie hier im kulturellen und historischen Schmelztiegel Berlin. Ich ging einfach mal davon aus, dass alle hübsch gleichberechtigt sind. Das war doch auch der ursprüngliche Gedanke, oder nicht?
„Uns wurde die Fahne und die Hymne weggenommen – und der Westen übergestülpt“
Hier muss ich von einer Begegnung erzählen – im Rahmen einer KURIER-Reportage traf ich Ursula Wünsch, die Spielmittel in der DDR herstellte. Nach der Wende fand sich die kreative Unternehmerin in einem westlichen Gerichtsprozess wieder, und dort stellte man fest, dass man nicht wisse, „was sie für einen Marktwert hat“. Ich kann mir nicht ausmalen, was das für ein Rückschlag gewesen sein muss, für Wünsch – Erfolg in der DDR und dann der Mauerfall. Das, was sie beruflich ausmachte und wofür sie immer geschätzt wurde, hatte im Westen an Bedeutung verloren. „Das, was man nicht kannte, wurde einfach nicht gesehen“, meint Ursula.
„Uns wurde die Fahne weggenommen, uns wurde die Hymne weggenommen – uns wurde der Westen übergestülpt. Das war eine enorme Enttäuschung - man kann nicht einfach ersetzen, ohne zu fragen“, erzählte mir Ursula – sie meint, „man habe die Menschen kopflos gemacht und ein Stück vom Herzen herausgerissen.“ Die große KURIER-Reportage über die DDR-Spielfrau lesen Sie hier.

„Ein prägendes Stück des kollektiven Gedächtnisses von ganz Deutschland“
Es gibt so viele Schicksale, Geschichten und Biografien da draußen. Die Aufarbeitung, also das Gespräch über die teilweise getrennten, aber auch gemeinsamen Erinnerungskulturen von Deutschland könnten ein wertvoller Zugang sein, um diese ersehnte Einheit, für die man sich 1989 so eingesetzt hat, zu pflegen. Denn der Mauerfall und die Wiedervereinigung sind ein prägendes Stück des kollektiven Gedächtnisses von ganz Deutschland.
Ich erinnere mich, wie meine Eltern über die Wende erzählten: „Nach der großen Freude, Euphorie und Freiheit zum Mauerfall kam auch dann diese Nachwehe, diese Ernüchterung.“ Es geht um große Versprechen, aber dann diese ökonomischen und soziokulturellen Unterschiede, die heute noch für das Gefühl von Ungerechtigkeit sorgen. Ich muss euch nichts erzählen, ihr wisst es bestimmt genauer.
„Ich bin spät dran zu fragen und zuzuhören“
Der Konflikt zwischen Ost und West dauert schon lange an. Nehmt es mir nicht übel, dass ich mich erst nach gut 35 Jahren dem Thema nähere. Ich bin spät dran damit, Fragen zu stellen und zuzuhören. Vielleicht wird im Osten das Thema „Ost und West“ auch deshalb immer wieder thematisiert, um auch meiner Generation zu verstehen zu geben, dass es um Anerkennung geht und darum, Sichtbarkeit zu schaffen. Denn abgeschlossen ist nichts. Jetzt, wo ich den Osten immer mehr kennenlerne, würde ich diesen Teil der Identität jedenfalls nicht missen wollen. Der Westen darf auf keinen Fall den Fehler machen, alles im Osten mit DDR zu vermengen. Hier gibt es Traditionen, Stolz und Identität, vielleicht trotz der DDR – und nicht wegen ihr. ■