Patienten glücklich

Arzt im Osten: So kämpft Marzahn gegen den Ärztemangel

In Marzahn fehlen Ärzte. Der Orthopäde Dr. Christian Kuhn ist aus Charlottenburg in den Osten gekommen und hat eine Praxis am Blumberger Damm eröffnet.

Author - Stefanie Hildebrandt
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Orthopäde Dr. Christian Kuhn in seiner Praxis. Er ist gern Arzt in Marzahn.
Orthopäde Dr. Christian Kuhn in seiner Praxis. Er ist gern Arzt in Marzahn.Markus Wächter/Berliner Kurier

Wer im Bezirk Marzahn-Hellersdorf zum Arzt muss, hat schlechtere Karten als Patienten in den Innenstadtbezirken wie Mitte oder Charlottenburg. Er muss länger auf einen Termin warten, manche Praxen nehmen erst gar keine neuen Patienten auf. Der Bezirk im Osten ächzt unter Ärztemangel. In vielen Fachrichtungen liegt der Versorgungsgrad deutlich unter 100 Prozent.

Einer, der sich gegen den Trend stellte und von Charlottenburg an den Stadtrand im Osten wechselte, um in Marzahn mit einer Kollegin eine eigene Praxis zu eröffnen, ist der Orthopäde und Unfallchirurg Dr. Christian Kuhn. Er weiß, wo die Fallstricke liegen, wenn es darum geht, eine eigene Praxis zu eröffnen. Und was sich im Gesundheitssystem generell ändern müsste, um für alle eine gerechtere Versorgung zu gewährleisten.

Ärztemangel in Marzahn: Geld im Gesundheitssystem muss besser verteilt werden

Es ist noch gar nicht so lange her, dass Kuhn einen Zettel an seiner Praxistür anklebte. Darauf stand: „Neue Patienten können nicht mehr angenommen werden, Sprechstunden werden verkürzt, Wartezeiten auf einen Termin werden sich verlängern.“ Bei Unmut und Verärgerung sollten sich Patienten an die Krankenkassen und an die Kassenärztliche Vereinigung wenden. Ursache für den Rundumschlag des Orthopäden war eine gängige Vorgehensweise der Krankenkassen, die es Ärzten, die mit einer eigenen Praxis durchstarten wollen, richtig schwer macht.

„Ein großer Teil der von mir und meiner Kollegin behandelten Patienten in einem Quartal ist damals schlicht nicht vergütet worden“, erläutert Kuhn. Über 500 Patienten haben er und seine Mitstreiterin umsonst behandelt. „Das ist so, als würde man sagen, die Pizzeria unter unserer Praxis läuft gut. Warum kriegt die eigentlich jede Pizza bezahlt, die sie macht?“ Ursache für die ungerechte Bezahlung ist die Budget-Praxis der Krankenkassen. Die vergeben ihr Budget für Patienten und berechnen sogenannte Fallzahlen, in dem sie sich am Quartal ein Jahr zuvor orientieren. In Kuhns Fall war da noch seine Vorgängerin am Werk, die hatte wegen Krankheit und Urlaub aber viel weniger Patienten behandelt.

Zeitgleich schlossen in der Marzahner Nachbarschaft gleich zwei Praxen mit ähnlicher Ausrichtung, ein Orthopäde und ein Hausarzt, der auch Sportmedizin angeboten hatte, und die Patienten standen bei Christian Kuhn Schlange. Er behandelte sie und wurde nicht bezahlt. „Junge Ärzte werden mit Regelungen wie dieser abgeschreckt, sich mit eigener Praxis niederzulassen“, befürchtet Kuhn. Auch dass in einem unterversorgten Bezirk wie Marzahn-Hellerdorf das Budget nicht dem Bedarf angepasst wird, ist für ihn ein Manko. Nur etwa fünf Prozent Zuwachs an Patienten jährlich kalkulieren die Krankenkassen, egal ob mehr Patienten auf Arztsuche sind, oder nicht

Im Bezirk Marzahn fehlen Haus- und Fachärzte

In Marzahn-Hellersdorf ist die Versorgung mit Haus- und Fachärzten besonders prekär. Bei der Versorgung mit Hausärzten sind lediglich 79 Prozent abgedeckt, bei den HNO-Ärzten sind es 84,5 Prozent, bei Kinderärzten 90 Prozent, bei Augenärzten 87,9 Prozent und bei den Orthopäden liegt der Versorgungungsgrad, den die Krankenkassen anhand der Bevölkerungszahl und Sozialdaten erheben, bei 97, 3 Prozent. Wer zum Hautarzt muss, wird wahrscheinlich lange auf einen Termin warten, hier liegt der Versorgungsgrad bei 71,9 Prozent.

Doch warum bloß will keiner nach Marzahn? Was sind die Ursachen für diese Schieflage? In anderen Bezirken wie Mitte etwa, hat man beispielsweise Versorgungsgrade von über 100 Prozent. „Die Ursachen für die angespannte Versorgungslage in Marzahn-Hellersdorf sind vielfältig“, sagt Gesundheitsstadtrat Gordon Lemm. Zum einen sei Marzahn ein Außenbezirk mit einem leider immer noch schlechten Ruf. Das betreffe sowohl die öffentliche Wahrnehmung als auch die Sicht potenzieller neuer Ärztinnen und Ärzte. „Diese fehlende Attraktivität wirkt sich spürbar auf die ärztliche Versorgung aus.“

Hinzu komme, dass man im Bezirk besonders viele komplexe gesundheitliche Bedarfe habe. „Viele Menschen leben hier unter herausfordernden Bedingungen, es gibt mehr chronische Erkrankungen und eine insgesamt höhere Belastung der Versorgungsstrukturen“, erläutert Lemm.

Gordon Lemm ist Gesundheitsstadtrat in Marzahn-Hellersdorf. Er setzt sich für mehr Ärzte im Bezirk ein.
Gordon Lemm ist Gesundheitsstadtrat in Marzahn-Hellersdorf. Er setzt sich für mehr Ärzte im Bezirk ein.Andrea Vollmer

Ein weiterer zentraler Punkt sei das bestehende Zwei-Klassen-System im Gesundheitswesen, das gesetzlich Versicherte strukturell benachteiligt. „Privatversicherte leben häufiger in wohlhabenderen Innenstadtbezirken wie Charlottenburg-Wilmersdorf. Diese Bezirke sind medizinisch deutlich besser versorgt, da sie für Ärztinnen und Ärzte wirtschaftlich attraktiver erscheinen“.

Dies bestätigt auch Christian Kuhn. „Ärzte suchen für eine Niederlassung lieber potenziell lukrative Standorte aus. Auch wenn sie an der Friedrichstraße ersteinmal die höhere Miete erwirtschaften müssen“, sagt er. Bevor Kuhn seine eigene Praxis gründete, war er in einer Praxis in Charlottenburg angestellt.

„Viele Ärzte bleiben auch lieber im Angestelltenverhältnis“, weiß Kuhn. Sie entgehen so dem Bürokratiewust, den eine eigene Praxis mit sich bringt. Dem versucht der Bezirk Marzahn auch zu entsprechen, indem man sich dort für eine weitere KV-Praxis im Bezirk stark macht. „Es gibt bereits eine KV-Praxis in unserem Bezirk, in der angestellte Ärztinnen und Ärzte tätig sind“, sagt Gesundheitsstadtrat Gordon Lemm. Darüber hinaus sei er in engem Austausch mit der Kassenärztlichen Vereinigung, um die Einrichtung eines weiteren Standorts zu prüfen.

Nicht genug Ärzte in Marzahn: Auch Patienten müssen besser gesteuert werden

Auch wenn an vielen Stellen Verbesserungen erzielt werden, ist sich Christian Kuhn sicher, dass das derzeitige System ohne eine bessere Steuerung der Patienten ans Limit kommt. „Derzeit kann jeder Patient beliebig oft entscheiden, zu welchem Facharzt er geht“, so Kuhn. Eigentlich müsste der jeweilige Hausarzt die Steuerung übernehmen, aber das könnten die Praxen aktuell gar nicht leisten.. „Am Ende läuft es dann doch wieder darauf hinaus, dass eine Schwester am Tresen Überweisungsscheine verteilt.“ Daher findet die alte DDR-Idee einer Gemeindeschwester, die erster Ansprechpartner bei Beschwerden wäre, seine Zustimmung. Und auch Gordon Lemm setzt auf Filter, bevor alle mit ihren Beschwerden bei den unterschiedlichsten Ärzten vorstellig werden.

Im integrierten Gesundheitszentrum (IGZ), in dem sich Patienten vor oder nach ihrer Behandlung beraten lassen können – etwa zu Themen wie Ernährung, Bewegungsförderung oder Vermittlung an weitere unterstützenden Angeboten im Bezirk kann womöglich so mancher vergebliche Arztbesuch vermieden werden. „Dadurch gewinnen die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte mehr Zeit, um sich um andere Patientinnen und Patienten zu kümmern“, so Lemm.

Drei Monate warten auf den Termin beim Arzt in Marzahn

Derzeit müssen Patienten bei Dr. Kuhn drei Monate auf einen Termin warten. Akute Probleme, wie nach Unfällen, werden natürlich sofort behandelt. Etwa 3000 Patienten sehen seine Praxiskollegin und er im Quartal. Die meisten kommen mit Rückenschmerzen. „Unsrere Klientel sind eher ältere Menschen“, sagt Kuhn, der nach seiem Studium in Jena auch schon am benachbarten Unfallkrankenhaus Marzahn gearbeitet hat. Vorbehalte gegenüber dem Ostbezirk hatte der 50-Jährige daher keine. „Am UKB gab es eine totale Durchmischung in der Belegschaft“, sagt er. „Und wenn man uns irgendwo in eine Praxis setzen würde ohne zu wissen, wo sie sich befindet, man könnte an den Patienten nicht ablesen, ob man sich in Ost oder West befindet.“ Rückenschmerzen sind grenzüberschreitend. Die Versorgung mit Ärzten allerdings nicht immer.

„In Marzahn-Hellersdorf fehlen genau dort die Praxen, wo der Bedarf besonders groß ist“, weiß Gordon Lemm. „Das führt zu einer negativen Entwicklung: Die medizinische Unterversorgung verstärkt sich selbst, was langfristig zu noch größerem Bedarf und einer insgesamt schlechteren Prognose führt.“

Ganz so pessimistisch ist Dr. Christian Kuhn nicht, was irgendwann die Nachfolge für seine Praxis am Blumberger Damm angeht. Es wird sich schon einer, oder besser noch zwei finden, denen die Menschen im Bezirk wichtig sind. „Wir haben hier unheimlich dankbare Patienten“, sagt Kuhn. Und das ist wahrlich kein schlechter Grund, in Marzahn Wurzeln zu schlagen.