Seit 1925 gibt es das Eicheneck in Köpenick! Inzwischen führt die vierte Generation den Laden, die fünfte steht schon bereit. Zwischen Rotkohl, Würzfleisch und Hackepeter erzählt dieser Ort von hundert Jahren Kiez-Alltag. Gemeinsam mit dem KURIER hat die Familie das alte Fotoarchiv durchstöbert.
Die Straßenbahn rattert vorbei. Seit 1907 fährt sie hier Unter den Birken entlang, Richtung Endstation Mahlsdorf. Eine alte Kastanie steht an der Pforte des Eicheneck, ihre Blätter tiefgrün. Die Rollläden des traditionsreichen Lokals werden hochgezogen. Die Tür geht auf. Da steht Jordan Kretschmann (25), lächelnd: „Juten Morgen.“
Drinnen riecht es nach altem Haus, nach früher. Auf dem Herd kochen bereits Kartoffeln. Oft fängt der Tag hier schon um 10 Uhr morgens an. Große geschichtliche Ereignisse sind hier vorbeigezogen. „Eicheneck hatte die letzten hundert Jahre immer offen, mit Ausnahme von Corona“, sagt Jordan und stellt einen Cappuccino auf den alten Ecktisch links neben der Tür.

Erste Generation Eicheneck in Köpenick
An den Wänden hängen Dutzende Fotos: Stammgäste, Familienfeste, alte Zeiten. Sie erzählen von langen Abenden und vollen Stamm-Aschenbechern. Am Anfang kam ein Taxifahrer aus Hamburg nach Berlin, mit der Idee, die Kaffeetrinkerei aus Hamburg in der Hauptstadt voranzubringen. Ein kleines Café namens Schäferklause war der Start, im Jahr 1925, als die Goldenen Zwanziger in Berlin gerade Fahrt aufnahmen.
Der Taxifahrer war Paul Jaschinski, Jahrgang 1876. Das Haus war nagelneu. „Warum Paul und seine Frau Erna aus Hamburg nach Köpenick zogen, weiß bis heute niemand so genau“, sagt Anja Kretschmann (51), seine Urenkelin, die das Eicheneck heute gemeinsam mit ihrer Familie führt.

„Außerdem wollten die Berliner lieber Bier. Also machte Paul 1926 eine Kneipe draus“, sagt Anjas Sohn Jordan. Das Lokal wurde zur Eckgaststätte und hieß fortan Eicheneck. Es waren lukrative Zeiten, und dann kam 1939 der Beginn des Zweiten Weltkriegs mit dem deutschen Angriff auf Polen.

Am Ende lag Berlin 1945 in Schutt und Asche, aber der Kiez rund um Köpenick bekam weniger ab von den heftigen Gefechten, die sich im Zentrum von Berlin zwischen den Häusern abspielten. „Wir wissen, dass das Eicheneck unversehrt durch den Krieg kam und eigentlich durchgehend geöffnet war.“ Paul war stets gut gekleidet und bemüht um seine Kundschaft. Seine Frau Erna, geboren 1889, stand immer hinter der Theke und unterstützte ihn, bis sie 1951 plötzlich und unvermittelt an einem Schlaganfall starb. Für das Eicheneck begann ein neues Kapitel.

Pauls und Ernas Sohn, späterer Eigentümer des Eicheneck, Bruno Jaschinski, arbeitete damals bei der Berliner Bürgerbräu in Friedrichshagen. Mit starken Arbeitspferden und später einen starken LKW-Mercedes fuhr er Bierfässer durch Ostberlin. Durch diese Kontakte hatten die Stammgäste vom Eicheneck stets gutes, lokales und echtes DDR-Bier im Glas. Wenige Jahre nach dem Tod von Erna übergab Paul die Eckkneipe schließlich an seinen Sohn Bruno und dessen Frau Else Jaschinski. Die zweite Generation übernahm, als gleichzeitig hunderttausende Bürger der DDR in den Westen flohen. Es waren harte Zeiten, aber im Eicheneck ging es weiter.

Die Zweite Generation Eicheneck im geteilten Berlin
Dann kam 1961 und Walter Ulbricht, Vorsitzender des Staatsrats der DDR, log: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Quer durch die Stadt wurde sie dann doch gebaut und Bruno führte die Kneipe weiter in der geteilten Metropole. An den Stammtischen wurde nun bei Bier und nächtlichen Kartenspielen über das geplaudert, was Berlin gerade bewegte.
Bruno und Else, gemeinsam mit Schäferhund Axel führten das Eicheneck nach bestem Wissen und Gewissen. „Denen ging es gut zu DDR-Zeiten, das waren gute Jahre“, sagt Enkelin Grit Jaschinski (56), Schwester von Anja und Tante von Jordan. „Der Laden war damals immer brechend voll“, erzählt sie weiter. „Die mussten keine Miete zahlen, keinen Strom. Sie waren Kommissionäre bei der HO. Also bei der Handelsorganisation. Die Ware kam von der HO, wurde hier verkauft, und 53 Prozent vom Gewinn durften sie behalten. So kam man überhaupt erst an die Ware ran.“

Grit errinnert sich, wie es zu DDR-Zeiten unzählige Gaststätten gab. Es gehörte einfach dazu, dass viele Arbeiter nach der Schicht noch ein Bier trinken gingen, bevor sie nach Hause fuhren. „Und dann kamen sie mit der Schichtraupe und stolperten aus der Tram hier zu Tür herein.“ Grit setzt fort: „Am Eingang hingen damals schwere Vorhänge. Wenn man die zur Seite schob, stand man direkt im blauen, dichten Rauch.“
Eicheneck war eine richtige Raucherkneipe. Sonntags von zehn bis dreizehn Uhr war Frühschoppen. Es wurde Karten gespielt und ordentlich getrunken. Ein Bier kostete 55 Pfennig, um 13 Uhr mussten die Männer dann zum Mittagsessen heim.
Der treue Schäferhund Axel wachte Tag wie Nacht über Eicheneck. „Wir haben heute noch Stammkunden, die sich an Axel erinnern“, erzählt Jordan. „Die Gäste liebten ihn.“ Sei luden den Hund auf Buletten und Bockwürste ein. Und genau das wurde dem Tier auch zum Verhängnis. Eines Tages starb Axel, an einem Übermaß an Eichenecker Bockwurst.

Dritte Generation Eicheneck: Alle kennen Jaschi und Gila
Bruno übergab schließlich den Laden an seinen Sohn Jürgen Jaschinski, im Jahr 1974. Alle kannten ihn nur als Jaschi und Gila, seine Frau Gisela. Anjas und Grits Eltern. „Wir hatten eine schöne Kindheit hier“, sagt Anja. Sie sind essen gegangen, in den Urlaub gefahren.

Eicheneck war nicht nur für Nachbarn ein Zuhause, sondern auch für bekannte Gesichter aus dem Osten. DDR-Star und Sänger Frank Schöbel war Stammgast. Laura Kaiser (25), Jordans Verlobte und Kellnerin im Eicheneck, erzählt: „Meine Oma legt bis heute zu Weihnachten die Schallplatte von Frank Schöbel auf, ‚Weihnachten in Familie.‘ Und irgendwann hat Schöbel hier sogar ein Musikvideo gedreht. Da kommt er mit Lederjacke in seine Stammkneipe, trinkt Bier und spielt Karten.“ So war es damals. Auch Manfred Richter, Hauptkommissar im DDR-Kultkrimi Polizeiruf 110, war regelmäßig zu Gast. Laura blättert im Gästebuch, „guck mal“: Ein Eintrag, datiert auf den 11. April 1987:
Bei Jaschis kehren wir gerne ein,
denn dort fühlen wir uns wieder heim.
Bier, Wein, Schnaps und Sekt,
alles ist perfekt.
Im Winter drinnen, im Sommer draußen,
dort hört man so schön die Kastanien rauschen.
Macht weiter so, lasst euch nicht verdrießen,
wir lassen uns diesen schönen Ort nicht vermiesen.
Von damaligen Stammgästen Brigitta Hannemann und Klaus

So erlebte man im Eicheneck den Mauerfall
Am Abend des 9. November 1989 war das Eicheneck wie so oft rappevoll. Gegen halb zehn rannte Grit die Treppe aus der Wohnung im oberen Stockwerk runter in die Kneipe. Unten wurde getrunken und Karten gespielt. Grit voller Aufregung zu den Eltern: „Die Mauer ist auf.“ Sie erzählt, dass diese Neuigkeit den ganzen Laden aufgemischt habe. Kurz darauf fuhren sie los, Richtung Rudow, rüber zum Grenzübergang in Schönefeld. „Der Westen,... also das war wie ein Film. Das kann man nicht beschreiben“, sagt Grit. „Es war, als ob es nicht echt ist. Wir wussten gar nicht, wie man sich orientiert. Wir wollten eigentlich nach Schöneberg, und mussten jamanden auf einem Mofa nach dem Weg fragen.“ Auch die aus dem Westen waren euphorisch. „Sie klopften vor Freude auf das Dach und die Motorhaube vom Trabbi“, erinnert sich Grit. Anja war damals 15 Jahre alt.

Spielautomat und ein Billardtisch - der „Westen“ hält Einzug im Eicheneck
„Die Wendezeit brachte erst mal Schwung“ erzählt Grit. „Es war spannend, und viele Westdeutsche fanden den Weg ins Eicheneck.“ Es war günstiger als im Westen, man konnte einen richtig langen Abend machen. Mit dem Westen kamen auch ein Spielautomat, ein Billardtisch und ein Dartautomat ins Lokal. „Typisch West eben.“ Grit erzählt weiter: „Erst dachten wir, dass jetzt die besseren Zeiten kommen. Aber es kam anders... “ Nach ein paar Jahren wurde es spürbar, dass die Leute dann doch weniger Geld in den Taschen hatten, der große Erfolg blieb aus, und dennoch ging es weiter mit dem Eicheneck.
Am 1. Juli 1990 dann die Währungsreform. Die DDR-Mark wurde gegen die D-Mark ausgetauscht. Alles Geld musste bis zu einem bestimmten Stichtag eingezahlt werden, nur Gastronomen hatten eine Sonderregelung. „Die Leute haben in der Kneipe mit dem Geld um sich geworfen“, sagt Anja. Eine Schnapsrunde nach der Nächsten. „Es war ein richtig großes Fest, und ich sammelte die übrig gebliebenen Münzen mit einem Hut ein.“
Vierte Generation: Von der Raucherkneipe zum Eck-Restaurant
1995 passierte dann ganz viel in der kultigen Eckkneipe. In diesem Jahr kam die warme Küche, die Grit und Anjas Mann André gemeinsam wuppten. Und Oma Gila machte das Wichtigste, „sie lief von Tisch zu Tisch, sprach mit den Leuten, nannte jeden Stammgast beim Namen. Gila trank gern Jägermeister und machte Kundenakquise“, so Jordan.
Die Jahre gingen ins Land und 2008 kam ein weiterer Schlag. Opa Jaschi erlitt einen Schlaganfall und war einseitig gelämnt. Er übergab das Eicheneck an Tochter Anja, half aber so gut er konnte weiter mit.

Und dann das Nichtraucherschutzgesetz. „Plötzlich stand man vor der Entscheidung, entweder weiter rauchen und trinken oder auf Essen setzen. Für viele war das der Moment, in dem der klassische Kneipencharakter vom Eicheneck verloren ging“, sagt Laura. Aus der Imbissküche wurde eine echte Restaurantküche. Rund 50 Gäste konnten hier fortan gleichzeitig essen. Parallel wuchs Jordan auf, er wurde der Hoffnungsträger der fünften Generation Eicheneck. Die Kneipe mit ihren Stammgästen wurde ganz natürlich sein Zuhause.
Fünte Generation: Kult-Kneipe und Restaurant Eicheneck wird 100 Jahre alt
2014 lernte er Laura in der Schule kennen. Die zwei wurden ein Paar und sie fing im Eicheneck auf Minijobbasis an. 2018 schlossen sie die Schule ab. Für Jordan war es lange nicht selbstverständlich, dass er das Eicheneck einmal übernehmen würde. Eigentlich wollte er reisen, die Welt sehen, und war auch schon mal in Vietnam.
Kurz vor dem Weihnachtsgeschäft 2018 kam dann alles Schlag auf Schlag. Mama Anja rief an, sagte, dass es Papa André nicht gut gehe. „Ich kannte es nicht, das es meinen Eltern mal nicht gut geht“, sagt Jordan. Der Krebs riss André innerhalb weniger Monate aus seinem Leben. Ein großes Foto hängt von ihm neben der Tür zur Küche. Jordan sieht ihm sehr ähnlich. In dem Moment war nicht klar, ob das Eicheneck überhaupt weitergeführt wird. Die Trauer um Vater und Mann André überschattete alles. Jordan hatte eine Entscheidung zu treffen. Wollte er zurück ins Ausland oder mit Laura den Service im Eicheneck übernehmen? „Natürlich mache ich das hier“, sagte Jordan.
Das junge Pärchen machte sich viele Gedanken, über das Konzept, die Karte, den Stil. „Wir wollten es mehr klassich.“ Die Klopse kamen zurück aufs Menü, Jordan begann, sich für hochwertige Weine und Spirituosen zu interessieren, alles sollte einfach „noch regionaler, lokaler und ehrlicher werden. Wir wollten eine Erinnerungsküche.“
Hier gibt es traditionelle deutsche Hausmannskost
2020 kam Corona und legte die Welt lahm. „Wir haben uns gefragt, was machen wir jetzt? Wie soll das weitergehen?“ Dann fingen sie an, Essen außer Haus zu verkaufen. Sie stellten die Frage auf Instagram: Was wollt ihr essen? „Und die Gäste kamen mit ihren eigenen Tellern und wir packten das Essen drauf“, Laura lacht. Die Covid-Kontrollen waren zermürbend. Bei jedem einzelnen Gast musste gefragt werden, ob geimpft, genesen oder getestet. „Das hat keinen Spaß gemacht“, sagt Laura. „Viele Stammgäste waren verärgert. Aber wir hatten keine Wahl.“ Und trozdem blieben die Stammgäste. „Die haben uns den A*sch gerettet. Ganz klar“, sagt Jordan.


Dank der Stammgäste konnte Eicheneck dieses Jahr das 100-jährige Jubiläum feiern. Es gab Kartoffelsalat, der Kassenschlager im Eicheneck, dazu Soleier , Hackepeter-Stullen, „alles wie früher.“ Eines Tages wird Jordan Eicheneck übernehmen.
In der Küche reibt Anja Rotkohl von Hand, salzt den Kartoffelsalat. Grit holt die Kartoffelpuffer aus dem Ofen. „Ick liebe Uhlenhorst, ick mag dit hier. Du hast den Wald, du hast alles. Es ist immer noch ein bisschen wie auf dem Dorf“, Grit grinst. Jordan lehnt an der Tür zur Küche, schaut seiner Tante und Mutter beim kochen zu: „Eicheneck hat eine helle Zukunft! Wir arbeiten daran dass es noch lange so weiter gehen kann!“