Zu Beginn eines Spieljahres muss sich selbst der eingefleischteste Fan des 1. FC Union wohl noch immer kneifen. Zum sechsten Mal nun schon nehmen die Eisernen eine Saison in der Bundesliga in Angriff. Was 2019 mit dem Aufstieg Utopie war, etwas nie Dagewesenes, Unfassbares, Unvorstellbares, für manche sogar ein Unfall, bekommt langsam einen Hauch von Realität. Das aber erst, nachdem es in der vorigen Spielzeit ein erstes Mal in der Richtung nicht mehr ganz so stimmte. Trotzdem bleibt all das, was auch nun wieder rund um das Stadion An der Alten Försterei passiert, ungeachtet eines 0:4 im vorletzten Testspiel, ein einzigartiges Märchen.
Die sechste Spielzeit also. Erstmals heißt der Trainer zu Saisonbeginn nicht Urs Fischer. Zum ersten Mal heißt der Manager nicht Oliver Ruhnert. Zum ersten Mal geht es in den ersten 90 Minuten auf Reisen. Doch andere wichtige Konstanten sind geblieben. Dirk Zingler ist weiterhin Präsident, im 21. Amtsjahr nun schon, und Christopher Trimmel, der seine elfte Saison in Köpenick in Angriff nimmt, bleibt Kapitän. Nicht zu vergessen als Eckpfeiler selbst in stürmischsten Zeiten: die Anhänger. Diese rot-weiße Wand an der Waldseite und rundum im heimeligsten Stadion der Bundesliga.
Hansa, Dynamo, Energie: Kein Klub blieb so lange wie der 1. FC Union
Ein halbes Dutzend Spielzeiten sind eine ganze Menge. Vor allem für einen Verein, der, wie der 1. FC Union, zwar eine über hundertjährige Tradition besitzt, dennoch aus den eher unteren Bereichen des deutschen Fußballs kommt. Davon, dass er, als die Bundesliga 1963 ihren Spielbetrieb aufnahm, noch gar nicht 1. FC Union hieß, sondern oft umbenannt wurde von SG Union Oberschöneweide zu BSG Motor Oberschöneweide zum TSC Oberschöneweide zum TSC Berlin, ganz zu schweigen.

Das sechste Jahr am Stück in der höchsten Spielklasse haben die Köpenicker noch nie erlebt. Es ist ein Meilensein. Nicht einmal in der DDR-Oberliga haben sie das geschafft. 1969 und 1973 sind sie dort nach jeweils drei Jahren abgestiegen, 1980 nach vier, 1984 nach zwei und 1989 erneut nach vier. Viel Fantasie braucht es nicht, um dabei deutliche Attribute einer Fahrstuhlmannschaft zu erkennen.
Mehr Tradition in der Zweiten Liga
Kaum jemand, außer Fantasten, unverbesserlichen Optimisten, Berufsjublern oder mit rot-weißer Vereinsbrille zur Welt Gekommenen vielleicht, hat ihnen das ernsthaft zugetraut. Für den Fußball in Deutschlands Osten, zumal für Vereine mit DDR-Vergangenheit, ist das ohnehin einmalig. Hansa Rostock, 1991 als letzter Meister der zu Ende gegangenen Republik in die Bundesliga integriert, musste nach einem Jahr wieder runter. Dynamo Dresden hat vier Jahre geschafft. Der damalige VfB Leipzig hat gleichfalls nur ein Spieljahr durchgehalten. Für Energie Cottbus war zweimal nach drei Jahren Schluss. Beim zweiten Anlauf hat wenigstens Hansa den Bock umgestoßen, nur stand zwischendurch ja der Abstieg.
In diesem Zusammenhang rühmt sich die 2. Bundesliga damit, so viele Gründungsmitglieder der Bundesliga in ihrem 18er-Feld zu haben wie noch nie. Neun sind es von den 16 damals. In der Bundesliga sind mit Werder Bremen, Borussia Dortmund, Eintracht Frankfurt und dem VfB Stuttgart nur vier noch dabei. Aber selbst die sind einmal (Dortmund), zweimal (Bremen), dreimal (Stuttgart) und viermal (Frankfurt) abgestiegen.
Wo landet der 1. FC Union mit Trainer Bo Svensson?
Das zeigt: Der deutsche Fußball lebt. Lorbeeren welken schnell und sind manches Mal schon ein Spieljahr später kaum noch etwas wert. Der Spruch, dass zum Saisonstart alle bei Null beginnen, hat natürlich viel von Klischee. Irgendwie aber passt er doch. Wer hat das derart dramatisch erfahren müssen wie im Vorjahr die Eisernen. Nichts mehr war es mit dem (vermeintlichen) Glanz von Rang 4. Der Einzug in Europas Königsklasse war einmalig schön, die Spiele dort unvergesslich, abgelenkt vom Existenziellen haben sie manchen dennoch.
Was heißt das für die Spieler von Trainer Bo Svensson zweieinhalb Wochen vor dem Start? Dass nach der Rettung auf der letzten Rille nun alles wieder besser wird? Dass die Punkte vor allem im Ballhaus des Ostens wieder zahlreicher gewonnen werden? Dass es nicht mehr zur monatelangen Schieflage kommt?
Wichtig wäre nur, dass es am Ende auch dieser Spielzeit für die Anhänger des 1. FC Union erneut darum geht, sich allenfalls zu kneifen. ■