Nach Regimesturz

Syrien-Experte: „Halte Wandel von HTS-Führer für glaubwürdig“

Mit dem Sieg der Rebellen in Syrien wird das Machtgefüge im Nahen Osten erheblich durchgeschüttelt. Doch wie kann es in dem Kriegsland weitergehen?

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Ein Oppositionskämpfer feuert nach dem Sturz von Baschar al-Assad mit seiner AK-47 in die Luft.
Ein Oppositionskämpfer feuert nach dem Sturz von Baschar al-Assad mit seiner AK-47 in die Luft.Hussein Malla/AP

In den vergangenen zwei Wochen ist Diktator Baschar al-Assad in Syrien gestürzt. Der Fall des Regimes hat die Machtverhältnisse im Nahen Osten gehörig durchgeschüttelt. Nach dem Sieg der Revolution in Syrien und der ersten Unruhe, lassen sich langsam Tendenzen für die Zukunft des Landes erkennen. Der KURIER hat dafür mit dem Nahost-Experten Reinhard Schulze gesprochen und wollte wissen, wie es mit dem Kriegsland weitergehen könnte.

Herr Schulze, in vielen Medienberichten ist immer von Islamisten oder Dschihadisten die Rede, die Assad gestürzt haben. Teilen Sie diese Einschätzung?

Reinhard Schulze: Unter den ehemaligen Rebellen und jetzigen Machthabern gibt es eine klare national-religiöse Mehrheit, die eher dem demokratischen Spektrum zuzuordnen ist als den ultrareligiösen Dschihadisten. Das politische Spektrum der Opposition ist jedoch breit. Es reicht von säkularen, sozialdemokratischen Kräften über Nationalkonservative und Nationalreligiöse bis hin zu Salafisten und Dschihadisten. Politisch dominieren heute die gemäßigten Nationalreligiösen.

Der Anführer der HTS-Rebellen, der einstige Dschihadist Abu Mohammed al-Dschaulani tritt nun wieder unter seinem bürgerlichen Namen, Ahmad al-Sharaa, auf. Auch sonst geben sich die neuen Machthaber gemäßigt.
Der Anführer der HTS-Rebellen, der einstige Dschihadist Abu Mohammed al-Dschaulani tritt nun wieder unter seinem bürgerlichen Namen, Ahmad al-Sharaa, auf. Auch sonst geben sich die neuen Machthaber gemäßigt.Omar Albam/AP/dpa

Syrien-Rebellen: Vom Saulus zum Paulus?

Bislang galt die HTS als Terrororganisation, auf ihren Anführer al-Dschaulani ist sogar ein Kopfgeld der US-Regierung ausgesetzt. Doch nun hört man immer wieder, dass al-Dschaulani und die HTS sich eher gemäßigt geben. Auch ihre Ankündigungen klangen zunächst positiv. Haben sie sich vom Saulus zum Paulus gewandelt?

Al-Dschaulani hat seinen Kampfnamen abgelegt und tritt jetzt unter seinem bürgerlichen Namen Ahmad al-Sharaa auf. Das allein ist schon ein Indiz dafür, dass sein politisches Programm nicht mehr mit seiner Vergangenheit bei al-Qaida verbunden ist. Tatsächlich hat er sich öffentlich von dieser Vergangenheit distanziert und seine damaligen ultrareligiösen Einstellungen als Irrtum und Jugendsünde bezeichnet. Ich halte diesen Wandel für glaubwürdig. Darauf deuten auch die Erklärungen hin, die al-Sharaa kürzlich im Namen der HTS abgegeben hat. In einer heißt es: „Wir bekräftigen, dass die persönliche Freiheit für jeden garantiert ist und dass der Respekt vor den Rechten des Individuums die Grundlage für den Aufbau einer zivilisierten Nation ist“. Wer sich in einem Umfeld, in dem auch Dschihadisten aktiv sind, so äußert, artikuliert sehr gezielt einen politischen Willen. Darauf können ausländische Staaten, die neue Beziehungen zu Syrien suchen, durchaus aufbauen.

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Privat
Reinhard Schulze
Der in West-Berlin geborene Wissenschaftler war bis zu seiner Emeritierung 2018 Professor für Islamwissenschaften und Orientalische Philologie an der Universität Bern in der Schweiz. Schulze ist Experte für die islamische Welt im 20. Jahrhundert und forschte vor allem über die Modernisierung islamischer Gesellschaften.

Es gibt ja Beispiele von ehemaligen Terroristen wie Jassir Arafat, die irgendwann den Friedensnobelpreis bekommen haben. Glauben Sie, dass die USA und andere Mächte die Beziehungen zu einer möglichen Regierung mit Ex-Dschihadisten normalisieren könnten?

Sicher wird eine Normalisierung vom politischen Prozess in Syrien abhängen. Wenn sich Syrien zu einer „arabischen levantinischen Türkei“ konsolidiert, dürfte es wenig Probleme geben; wenn Syrien zu einem zweiten Libyen werden sollte, wäre es deutlich schwieriger.

Apropos Türkei. Die soll einen enormen Einfluss auf den Vormarsch und den Erfolg der Offensive gehabt haben. Sehen Sie Erdogans Hand im Spiel?

Natürlich hat die Türkei die Opposition im Nordwesten Syriens teils indirekt, teils direkt unterstützt. Mit dem neuen Regime hat sich die Türkei einen alten Traum erfüllt, nämlich wieder ein Machtfaktor in der Levante zu werden. Gestützt auf ein islamisch fundiertes, aktives Bürgertum, ähnlich den Trägergruppen der AKP in der Türkei, soll Syrien mit der Türkei zu einem großen Wirtschaftsraum verschmelzen. Wie sich dies auf die Situation der kurdischen Gemeinschaften auswirken wird, ist nicht absehbar. In Zukunft werden sich Israel und die Türkei die Hegemonie über die westliche Levante teilen.

In Deutschland feiern auch viele syrische Frauen den Sieg der Revolution in ihrem Heimatland.
In Deutschland feiern auch viele syrische Frauen den Sieg der Revolution in ihrem Heimatland.Jochen Tack/Imago

Sorge um Rechte von Frauen und ethnischen Minderheiten

Die Sorge um die Minderheiten in Syrien ist in Deutschland weit verbreitet: Kurden, Yeziden, Christen, Aleviten. Sehen Sie diese in Gefahr?

Syrien ist ein Land mit einer alten, sehr starken und ausgefeilten kommunalen Ordnung. Dörfer und Städte bilden den Rahmen für eine kommunale Identität, die sich konfessionell, sprachlich, ethnisch oder auch politisch ausdrücken kann. In vielen Kommunen, wie in Latakia, gibt es eine Pluralität der Konfessionen, aber politisch überwiegt der Gemeinschaftssinn. Solange das System so funktioniert, gibt es wenig Grund zur Sorge. Anders sieht es aus, wenn, wie unter dem Baath-Regime, eine bestimmte Konfession hegemonial wird oder, wie im Fall des IS, ganze Konfessionen wie Christen und Schiiten zu Feinden Gottes erklärt werden. Das geht aber nur, wenn der Kommunalismus nicht mehr funktioniert, und das war der Fall, nachdem das Assad-Regime den Krieg gegen die Gesellschaft, also gegen die Kommunen, eröffnet und sie buchstäblich in Schutt und Asche gebombt hat.

Auch die Befürchtung um eine Einführung der Scharia, des islamischen Rechts, wird befürchtet. Wird die neue Regierung die Rechte von Frauen einschränken?

In einem Erlass des Generalkommandos der HTS/FSA vom 9.12. heißt es: „Es ist strengstens verboten, Frauen zu zwingen, bestimmte Kleidung zu tragen, in ihr Recht auf freie Kleiderwahl einzugreifen oder Anforderungen an ihr Aussehen zu stellen“. Ob dies in allen Kommunen respektiert wird, ist fraglich. In sehr konservativen Milieus wie in der Region Hama, in den Dörfern der Steppe und nördlich von Homs dürfte es eher Versuche geben, eine islamisch gefärbte Sittenordnung durchzusetzen, was dann aber zu Konflikten mit dem „Staat“ führen dürfte. Für eine Talibanisierung der Sittenordnung fehlen in Syrien aber die Voraussetzungen.

Satellitenbild der russischen Marinebasis im syrischen Tartus: Die Russen möchten ihre Basen in der Region gern erhalten.
Satellitenbild der russischen Marinebasis im syrischen Tartus: Die Russen möchten ihre Basen in der Region gern erhalten.Maxar Technologies/AFP

Russland will wichtige Basen in Syrien nicht verlieren

Auf der Demonstration zum Sieg der Revolution in Berlin und auch in anderen Städten waren vereinzelt Palästina-Fahnen zu sehen. Sehen Sie Überschneidungen zwischen den Lagern und wie einflussreich sind diese?

Das ist schwer zu sagen. Die palästinensische Hamas hatte zwar immer einen Flügel, der mit den syrischen Rebellen sympathisierte, aber politisch dominierten die „Iranisten“, also diejenigen, die die Hamas in das Netzwerk der Achse des Islamischen Widerstands der iranischen Revolutionsgarden einbanden, der sich auch das Assad-Regime anschloss. Das werden viele Syrer den palästinensischen Organisationen nur schwer verzeihen. Erst wenn sich die Hamas politisch neu ausrichtet und sich vom Iranismus löst, könnte es so etwas wie gegenseitige Solidarität geben.

Russland soll seine Stützpunkte in Syrien zum Teil geräumt haben. Glauben Sie, dass die russische Präsenz im Land endet oder könnte man den Russen erlauben, ihre Basen weiter zu betreiben?

Hafiz al-Assad hat die Militärbasen 1971 der UdSSR geschenkt. Russland hat sie geerbt, ebenso wie das strategische Interesse an Syrien als Bastion am östlichen Mittelmeer mit seinen Warmwasserhäfen und gegen die NATO-Flanke (ex Bagdad-Pakt). Russland hat zwar seine Koffer in Syrien weitgehend gepackt, wird aber versuchen zu retten, was zu retten ist. Die russische Propaganda bezeichnet die HTS nicht mehr als „Terroristen“, sondern als politische Opposition, die nun die Macht ausübt und mit der Russland gute Kontakte pflegen will. Syrien, das seit 1946 unter russischem Einfluss stand, soll nach dem Willen Moskaus weiterhin eine Rolle im geopolitischen Konzept Russlands spielen.

Irans Präsident Massud Pesetschkian könnte vom Assad-Sturz in Syrien sogar indirekt profitieren.
Irans Präsident Massud Pesetschkian könnte vom Assad-Sturz in Syrien sogar indirekt profitieren.Iranian Presidency/Imago

In Iran und Libanon gibt es auch Profiteure des Assad-Sturzes

Der Iran hat mit Assad einen wichtigen Verbündeten verloren. Kann sich das Mullah-Regime davon erholen?

Der Iran ist der zweite Verlierer – Gewinner sind Israel und die Türkei. Oder besser gesagt: Verlierer sind die iranischen Revolutionsgarden und insbesondere ihr transnationaler al-Quds-Flügel. Ihr Netzwerk namens Achse des Islamischen Widerstands ist keine Achse mehr, sondern ein Flickenteppich, aus dem Syrien verschwunden ist. Der iranische Präsident Massud Peseschkian dürfte über diese Entwicklung nicht allzu unglücklich sein. Schließlich schwächt der Umbruch zugleich einen seiner wichtigsten und gefährlichsten Widersacher im System der Islamischen Republik.

Mit dem Assad-Regime ist auch der wichtigste Partner der Hisbollah und die Landverbindung zum Iran weggefallen. Wie wird es nun mit der Hisbollah im Libanon weitergehen?

Die Hisbollah hat mit ihrer Zustimmung zum Waffenstillstand mit Israel deutlich gemacht, dass sie der nationalen Politik Priorität einräumt und vor allem als nationale Organisation überleben will. Der Umbruch in Syrien wird genau diese Politik stärken, die letztlich eine Loslösung von der zu engen Bindung an den Iran bedeutet. Die Hisbollah wird versuchen, sich wieder als politische Interessenvertretung der schiitischen Gemeinden zu profilieren und ihr spezifisches Libanon-Programm umzusetzen. Das könnte ihr sogar wieder etwas Auftrieb geben.

Das Interview führte Peter Althaus.