35 Jahre Deutsche Einheit

Ist die Einheit geglückt? „Es fehlt die Entschuldigung aus dem Westen“

Ganz Deutschland feiert heute die Deutsche Einheit. Aber: Sind Ost und West wirklich vereint? KURIER hat auf der Straße nachgefragt.

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Vor 35 Jahren feierte ganz Deutschland die Wiedervereinigung. Aber: Ist die Deutsche Einheit wirklich geglückt? Jahrzehnte nach dem historischen Ereignis zeigt sich bei einer Umfrage auf der Straße ein anderes Bild.
Vor 35 Jahren feierte ganz Deutschland die Wiedervereinigung. Aber: Ist die Deutsche Einheit wirklich geglückt? Jahrzehnte nach dem historischen Ereignis zeigt sich bei einer Umfrage auf der Straße ein anderes Bild.Werner Schulze/imago

Es ist der 3. Oktober – ein besonderes Jubiläum: 35 Jahre ist es heute her, dass die Wiedervereinigung nach dem Mauerfall den Weg in ein vereintes Deutschland ebnen sollte. Doch: Ist die Einheit geglückt? Auch Jahrzehnte nach der Wende zeigt sich, dass viele nicht wirklich an die Deutsche Einheit glauben. Noch immer wird von Ost und West gesprochen. Und zu groß sind die Unterschiede  – ob beim Lohn, der Rente oder dem privaten Vermögen. Was sagen die Menschen auf der Straße? Der KURIER hat sich umgehört und auf der Straße nachgefragt.

Für viele junge Menschen spielt die Teilung in Ost und West keine Rolle mehr

Nur wenige Menschen halten sich an diesem kalten Tag im September an der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße auf. Eine große Rasenfläche, mittendrin ein Gehweg, auf der Seite zur Bernauer Straße ein Mahnmal aus Stahl-Stäben, das den Verlauf der Mauer nachzeichnet. Vor mehr als 36 Jahren lag hier für beide Seiten das Ende der Welt. Eine Frau, die mit ihrem Hund spazieren geht, erzählt, sie selbst wohne auf der Ost-Seite dieses Streifens – habe aber eine Freundin auf der anderen Seite. „Wenn wir uns unterhalten, sagen wir manchmal: Früher hätten wir uns nie treffen können.“

Am 3. Oktober feiert Deutschland das 35-Jahre-Jubiläum der Deutschen Einheit. Auch wir berichten darüber - mit den schönsten Geschichten aus Ost und West.
Am 3. Oktober feiert Deutschland das 35-Jahre-Jubiläum der Deutschen Einheit. Auch wir berichten darüber - mit den schönsten Geschichten aus Ost und West.Berliner KURIER

Sie heißt Petra K., möchte ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen. Die 59-Jährige betreut die Kapelle der Versöhnung in der Nähe, gerät hier immer wieder in Kontakt mit den verschiedenen Perspektiven auf die Einheit. Kommen Soldaten zu Besuch, die früher an der Mauer im Einsatz waren, finden sie die Einheit toll, sagt sie. Bei vielen anderen werde die Spaltung eher wieder größer. Und die jungen Menschen? „Für sie spielt das Thema gar keine Rolle mehr, was viele Ältere wiederum besorgt.“  Und was sagt sie selbst zur Einheit? „Ich würde nicht sagen, dass sie geglückt ist. Es ist doch überall die Rede von Ostdeutschland und Westdeutschland. Von Nord- und Süddeutschland redet keiner.“

Die 59-Jährige kommt selbst aus dem Westen, erlebte den Mauerfall vor dem Fernseher in einer WG in Stuttgart. 2004 zog sie nach Berlin, wollte sich hier engagieren, kam so zu ihrem Job in der Gedenkstätte. Und bringt eine interessante Perspektive mit. „Was mir heute fehlt, ist eine Entschuldigung der West-Politik an den Osten“, sagt sie. „Den Leuten wurde doch alles unter dem Hintern weggezogen.“ Industrieanlagen wurden verscherbelt, Politiker aus dem Westen übernahmen die Geschäfte. „Ich stelle es mir extrem schwierig vor, wenn alles, was man gemacht hat, von einem Tag auf den anderen nicht mehr richtig sein soll.“

Für Andrea Becker (60) wird es noch Jahrzehnte dauern, bis nicht mehr von Ost und West gesprochen wird.
Für Andrea Becker (60) wird es noch Jahrzehnte dauern, bis nicht mehr von Ost und West gesprochen wird.Veronika Hohenstein/Berliner KURIER

Das sieht auch Andrea Becker (60) aus München als Problem – sie schaut sich ganz in der Nähe die Infotafeln der Gedenkstätte an. „Der Westen stülpte dem Osten alles über, zu wenig Rücksicht wurde auf die lange gewachsenen Strukturen genommen.“ Auch die westliche Arroganz und die Besserwisserei seien dabei ein Problem gewesen, sagt sie – obwohl sie selbst aus München kommt. Zu viel sei kaputtgegangen. „Die Vase wurde aus allen Einzelteilen zwar mühsam zusammengeklebt, aber die Risse bleiben.“ Die Einheit ist für sie deshalb noch lange nicht abgeschlossen. „Es wird noch Jahre dauern. Die Gräben werden sich verjüngen – aber richtig gelingen wird es erst, wenn die älteren Generationen, die es miterlebt haben, nicht mehr da sind.“

Corinna von Rhein (58) und Holger Kuhlmann (58) kommen eigentlich aus der Nähe von Bochum, zogen aber nach dem Mauerfall nach Thüringen.
Corinna von Rhein (58) und Holger Kuhlmann (58) kommen eigentlich aus der Nähe von Bochum, zogen aber nach dem Mauerfall nach Thüringen.Veronika Hohenstein/Berliner KURIER

35 Jahre nach der Einheit: Wo ist die Aufbruchstimmung von damals geblieben?

Eine spannende Geschichte haben Corinna von Rhein (58) und Holger Kuhlmann (58) zu erzählen. Sie kommen aus Blankenstein südlich von Bochum, verbrachten die spannenden Zeiten der Wende aber im Osten. „1990, als die Mauer gefallen war, gingen wir zum Studieren nach Erfurt“, erzählt von Rhein. Noch heute erinnern sie sich begeistert an die Zeit des Umbruchs, an die Euphorie, die damals herrschte. „Die Leute in Thüringen waren voller Freude, weil sie plötzlich reisen konnte, wohin sie wollten. Und sie konnten einkaufen, worauf sie Lust hatten“, sagt Kuhlmann. Für die beiden sei es ungewohnt gewesen – denn im Westen lebten sie seit jeher ohne Grenzen.

Für Kerstin (53) und Heiko Lunau (55) ist die Frage, warum die Einheit bisher nicht geglückt ist, gar nicht so leicht zu beantworten. „Es wurde damals gesagt, dass alles aus der DDR schlecht war, dabei gab es auch Gutes – etwa die Kinderbetreuung“, sagt Kerstin Lunau. Auch der Industrieabbau hat Wunden hinterlassen. Das Paar aus der Lüneburger Heide sieht aber auch eine gewisse Neid-Debatte, wenn es ums Geld geht. „Natürlich sind die Renten und Löhne auch heute noch unterschiedlich. Aber dafür ist der Osten im Laufe der Jahre auch viel schöner geworden“, sagt sie. Dass die Wiedervereinigung trotzdem viel Gutes hat, zeigt die Geschichte von Heiko Lunau.  Er war zur Wendezeit bei der Bundeswehr, wurde dann nach Salzwedel geschickt. „Dort arbeiteten Soldaten von Bundeswehr und NVA zusammen – 24 Stunden zuvor hätten wir noch aufeinander schießen sollen.“ Doch nun kümmerten sie sich um ein gemeinsames Deutschland.
Für Kerstin (53) und Heiko Lunau (55) ist die Frage, warum die Einheit bisher nicht geglückt ist, gar nicht so leicht zu beantworten. „Es wurde damals gesagt, dass alles aus der DDR schlecht war, dabei gab es auch Gutes – etwa die Kinderbetreuung“, sagt Kerstin Lunau. Auch der Industrieabbau hat Wunden hinterlassen. Das Paar aus der Lüneburger Heide sieht aber auch eine gewisse Neid-Debatte, wenn es ums Geld geht. „Natürlich sind die Renten und Löhne auch heute noch unterschiedlich. Aber dafür ist der Osten im Laufe der Jahre auch viel schöner geworden“, sagt sie. Dass die Wiedervereinigung trotzdem viel Gutes hat, zeigt die Geschichte von Heiko Lunau. Er war zur Wendezeit bei der Bundeswehr, wurde dann nach Salzwedel geschickt. „Dort arbeiteten Soldaten von Bundeswehr und NVA zusammen – 24 Stunden zuvor hätten wir noch aufeinander schießen sollen.“ Doch nun kümmerten sie sich um ein gemeinsames Deutschland.Veronika Hohenstein/Berliner KURIER

Sie erinnern sich gern an die Aufbruchstimmung. „Alle wollten loslegen, wollten etwas schaffen. Heute fragen wir uns manchmal, wo die Euphorie von damals geblieben ist.“ Und auch, was die Wahlergebnisse im Osten zu bedeuten haben, warum die AfD hier immer mehr Gewinne macht. Vor dem Hintergrund, wie hier früher mit den Menschen umgegangen wurde, sei es schon merkwürdig, dass sich viele zu einer solchen Partei hingezogen fühlen, sagt Kuhlmann. Was die Einheit betrifft, sei womöglich zu viel Veränderung in kurzer Zeit passiert. „Es hat beiden Seiten die Zeit gefehlt, einander noch mehr zuzuhören“, sagt von Rhein.

Völlig neue Freiheit nach dem Mauerfall: „Wir sind Gewinner der Wende“

Wir ziehen weiter zum Alexanderplatz, der pulsierenden Mitte Berlins, wo die Weltzeituhr noch immer einer der wichtigsten Treffpunkte ist, heute für Ost und West. Am Fuß des Fernsehturms treffen wir Günter Blumenberg (82) und seine Frau Elfriede (84), die gerade zu Besuch in Berlin sind. Sie kommen aus der Region Südharz in Thüringen – und Günter Blumenbergs Gesichtszüge hellen sich auf, als wir ihn nach der Deutschen Einheit fragen. „Wir sind Gewinner der Wende“, sagt der Rentner. „In der DDR hatte ich nur ein einziges freies Recht – und das war das Recht auf Arbeit. Die SED-Bonzen haben sich das Recht genommen, überall hin zu reisen. Aber wir konnten das erst nach dem Fall der Mauer.“

Günter und Elfriede Blumenberg sind Gewinner der Einheit, sagen sie. Die neue Freiheit war für sie im November 1989 das schönste Geschenk zur Silberhochzeit.
Günter und Elfriede Blumenberg sind Gewinner der Einheit, sagen sie. Die neue Freiheit war für sie im November 1989 das schönste Geschenk zur Silberhochzeit.Veronika Hohenstein/Berliner KURIER

Die große Veränderung im Leben der beiden passierte rund um ihre Silberhochzeit, die sie im November 1989 feierten. „Wir kämpften zu dem Anlass um einen Ferienplatz, da wollte man uns in den Harz schicken“, sagt er und lacht. „Am Ende klappte es mit einem Platz im Hotel Neptun in Warnemünde. Hier sahen wir erstmal, in welchem Wohlstand die Leute von der SED Urlaub machen durften.“ Vom Mauerfall bekamen sie dann mit, weil am historischen Abend plötzlich alle Bedienungen verschwunden waren. Ein schöneres Geschenk zum Jubiläum hätte es kaum geben können, sagt Blumenberg. Und wie sieht es heute mit der Einheit aus? „Es ist nicht alles gelungen – aber es gibt eben in jedem System Gewinner und Verlierer“, sagt er.

Mitten auf dem Alexanderplatz faucht eine Frau: „Ich wollte nie in die BRD“

So großes Glück wie der Thüringer empfinden aber scheinbar nicht alle. Bei unserer Umfrage begegnen uns auch ganz andere Meinungen. „Ich wollte nie in dieses Land“, faucht uns eine Frau an, die wir mitten auf dem Alexanderplatz ansprechen. Wie sie das meine, fragen wir. „Ich wollte nie in die BRD.“ Was genau in ihrem Leben vorgefallen war – wir erfahren es nicht, denn sie läuft weiter, will nicht reden. Wieder andere sprechen vom Neid der Ostdeutschen auf den Westen. Auch 35 Jahre nach der Einheit merkt man: Es gibt tiefe Wunden. Vorurteile, die nur schwer abgebaut werden können. Und es wird vermutlich noch Generationen dauern, wir es das vereinte Deutschland wirklich gibt.

Petra (61) und Gregor Laubenstein (57) glauben, dass es noch eine Weile dauern wird, bis die Deutsche Einheit in den Köpfen verzogen ist. „Vielleicht eine oder zwei Generationen“, sagt die 61-Jährige. Sie erlebten die Euphorie zur Wende hautnah mit, weil sie in der Wollankstraße lebten, nur wenige Meter neben dem ersten Grenzübergang, der sich in der Nacht des Mauerfalls öffnete. Doch die Stimmung hielt nicht lange. „Den Menschen aus dem Osten wurde vieles abgenommen, vieles wurde übers Knie gebrochen, Firmen gingen den Bach runter.“ Heute sei der Tag der Deutschen Einheit eigentlich ein Tag wieder jeder andere. „Deutschland ist ein Land, aber längst nicht in den Köpfen.“
Petra (61) und Gregor Laubenstein (57) glauben, dass es noch eine Weile dauern wird, bis die Deutsche Einheit in den Köpfen verzogen ist. „Vielleicht eine oder zwei Generationen“, sagt die 61-Jährige. Sie erlebten die Euphorie zur Wende hautnah mit, weil sie in der Wollankstraße lebten, nur wenige Meter neben dem ersten Grenzübergang, der sich in der Nacht des Mauerfalls öffnete. Doch die Stimmung hielt nicht lange. „Den Menschen aus dem Osten wurde vieles abgenommen, vieles wurde übers Knie gebrochen, Firmen gingen den Bach runter.“ Heute sei der Tag der Deutschen Einheit eigentlich ein Tag wieder jeder andere. „Deutschland ist ein Land, aber längst nicht in den Köpfen.“Veronika Hohenstein/Berliner KURIER

Verstehen kann Kerstin L. das nicht – die 65-Jährige kommt aus Ost-Berlin, will ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen. Sie arbeitete vor der Wende im Intershop – und erinnert sich noch heute daran, wie leer es plötzlich war. „Jeden Tag fehlte jemand anderes auf Arbeit, manche kamen gar nicht wieder.“ Der eigene Job war dann weg, verbittert ist sie trotzdem nicht. Sie bewarb sich bei einer Bank, wurde genommen – „mit Kusshand“, sagt sie. „Ich bin doch selbst dafür verantwortlich, was aus meinem Leben wird.“ Auch dass der Westen dem Osten übergestülpt wurde, sieht sie nur bedingt so. Es seien doch auch im Osten viele der Meinung gewesen, dass die eigenen Dinge nicht gut waren. „Das Waschmittel roch für viele eben nicht so gut wie das aus dem Westen.“ Ob die Einheit gelungen sei oder nicht – das sei subjektiv, sagt sie. Wer was zum Meckern finden wolle, der könne etwas finden.

Was denken Sie über die Deutsche Einheit? Ist sie gelungen – oder eher nicht? Was trennt Ost und West noch heute? Und werden die Mauern in den Köpfen jemals verschwinden? Schicken Sie uns Ihre Meinung an wirvonhier@berlinerverlag.com. Wir freuen uns auf Ihre Zuschriften!