Ein Foto aus den 90er Jahren ist das letzte, was von einer einst so glücklichen Familie übrig blieb. Kerstin Seifert (59) aus Treptow schaut es immer wieder auf ihrem Handy an. Auf dem Foto zu sehen ist sie mit ihrer Pflegemutter Anna K., ihrer Tochter Nicole und dem kleinen Mischlingshund Peggy. Die Frauen lächeln in die Kamera, „wir gingen spazieren. Es war ein warmer, schöner Sommertag, voll Harmonie“, erinnert sich die Angestellte im KURIER-Gespräch. Jetzt trauert Kerstin Seifert um ihre Pflegemutter. Sie starb vor kurzem in einem Cottbusser Pflegeheim – weil sich dort niemand richtig um die 89-Jährige kümmerte, wie Kerstin Seifert sagt.
Der Abschied war ein Prozess über sieben Monate. „Weil meine Mama im Alter von 89 Jahren Anfang Oktober vergangenen Jahres an Demenz erkrankt ist und immer Figuren an der Wand sah, wurde sie in eine Klinik in Cottbus eingeliefert“.
In der brandenburgischen Stadt wohnte die Pflegemutter mit ihrem Ehemann, dort hatten sie im Jahr 1969 die erst vierjährige Kerstin aus dem Kinderheim geholt und bei sich aufgenommen. „Meine leibliche Mutter war an Krebs gestorben.“
Die Liebe zwischen den eben noch Fremden war sofort da. Kerstin Seifert weiß noch ganz genau, wie sie Hand in Hand mit ihrer Pflegemutter gemeinsam aus dem Haus in das neue, gute Leben lief. „Sie hat sich immer um mich gekümmert und alles, was sie konnte, für mich getan.“ Deshalb schmerzt es sie umso mehr, dass sie ihrer Mutter in ihrer Notlage nicht helfen konnte.

Das Problem: Als Pflegekind hatte Kerstin Seifert keinerlei rechtliche Handhabe, die Betreuung der Pflegemutter zu beeinflussen. Die eigene erzwungene Tatenlosigkeit zu verarbeiten, ist unerträglich für sie. „Mamas Leiden begleiten zu müssen und nichts für sie tun zu können, macht mich weiterhin fassungslos.“
1990 war Kerstin Seifert nach Berlin gezogen, aber weiterhin oft in Cottbus bei den Pflegeeltern zu Besuch, so auch im Oktober in der Klinik. „Dort gab mir eine Schwester ein Tablett und meinte, ‚versuchen Sie, das Ihrer Mutter zum Essen zu geben.‘“ Kerstin Seifert nahm den Deckel ab und erschrak: „ Auf dem Teller war ein Klecks kaltes Kartoffelpüree, ohne Soße, ohne irgendwas." Sie habe die Schwester gefragt, „ob es ihr Ernst ist, so etwas kranken Menschen zum Essen zu geben. Sie bejahte es und ließ mich stehen.“
Der Beginn bedrückender Entwicklungen ohne Hoffnung
Und es wurde immer schlimmer. Im November 2024 kam Anna K. in die Kurzzeitpflege. Dort habe Kerstin Seifert erfahren, „dass meine Mutter einen Dekubitus, eine Hautschädigung Grad zwei von möglichen vier, hatte. Es war alles wund, aber es hat sich keiner gekümmert“.
Im Dezember wurde Anna K. in ein Pflegeheim verlegt. „Es begann das Grauen, es wurde sich nicht gekümmert“ sagt Kerstin Seifert. „Die kranken Menschen wurden in einen Gemeinschaftsraum geschoben und sich selbst überlassen, obwohl genügend Pfleger anwesend waren. Meine Mutter konnte nicht mehr laufen und saß im Rollstuhl, in dem sie immer alleine durch die Gänge fuhr.“
Auch Alkohol soll die alte Frau bekommen haben. „Anfang April musste ich mit ansehen, wie man meiner Mutter und anderen Bewohnern Eierlikör gab. Meine Mutter hatte im Leben noch nie Alkohol getrunken.“ Wenn Kerstin Seifert von ihrer Pflegemutter erzählt, muss sie lächeln. Doch dieses Lächeln verschwindet, wenn sie an die Zeit ihrer Mutter im Pflegeheim denkt.

Anna K. stürzte zweimal kurz hintereinander. Einmal aus Rollstuhl, einmal aus einem Sessel. Das ganze Gesicht war voller großer Blutergüsse. Ihre Mutter, sagt Kerstin Seifert nun erregt, habe unter unerträgliche Schmerzen gelitten. „Den ersten Sturz hatte kein Pfleger mitbekommen, sondern eine Bewohnerin. In der Klinik war sie allein, niemand vom Heim war dabei.“ Zwischen den Stürzen habe nicht einmal der Hausarzt nach ihr gesehen, „obwohl ich mehrmals in der Praxis angerufen habe“.
Ende April wollte Anna K. dann nichts mehr trinken. „Beim letzten Besuch war sie nicht ansprechbar, hat nicht mehr reagiert. Ich brach zusammen, als ich sie sah.“ Kerstin Seifert schildert stockend die quälenden Abschiedsmomente. „Ich drückte in kurzen Abständen fest ihre Hand. So haben wir es immer getan. Dazu sagte ich ihr, ‚ich hab Dich lieb Mama. Geh ins Licht, Mama‘“.
Am 28. April schließlich die Todesnachricht. „Mit der Mitteilung, dass der Hausarzt gesagt hatte, sie wäre keines natürlichen Todes gestorben.“ Die Kriminalpolizei kam. „Hätte sich der Arzt gekümmert, hätte er mitbekommen, dass sie eine Lungenembolie hatte.“
Zur Zeit prüft die Staatsanwaltschaft den Fall
Der KURIER fragte nach bei der Polizei Cottbus nach. Ein Polizeisprecher bestätigt den Eingang der Anzeige: „Es handelt sich um ein Todesursachenermittlungsverfahren, was routinemäßig eingeleitet wird, wenn Todesursache und -umstände durch den hinzugerufenen Arzt nicht abschließend beurteilt werden können. Zur Zeit ist die Staatsanwaltschaft mit der Bewertung beschäftigt.“ Das Pflegeheim gab auf Nachfrage des KURIER keine Auskunft. Stattdessen beruft es sich auf die Schweigepflicht.
Wochen nach der Beerdigung steht Kerstin Seifert immer noch unter Schock. Sie weint im Gespräch mit dem KURIER, hebt die Hände vor ihr Gesicht, um ihren Schmerz zu verbergen. Aber keine Verbitterung, kein Hass sind ihr anzumerken. „Die Liebe, die meine Mama mir so lange und so intensiv gegeben hat, bleibt. Sie gibt mir Trost.“
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