Heimweh im Kollektiv – Kinderkurheime in der DDR
2,6 Millionen Kinder wurden in der DDR auf Kinderkuren in 155 Heime im ganzen Land verschickt. Auch nach Kroatien oder in die Hohe Tatra reisten sie. Die Erinnerungen an die Kuren sind zwiespältig. Jetzt werden die Kinderkuren in der DDR erstmals wissenschaftlich untersucht.

Ein lieber Mensch in meinem Bekanntenkreis ist eines von 2,6 Millionen Kindern gewesen, die in der DDR hauptsächlich zwischen 1950 und 1980 in sogenannte Kinderkuren „verschickt“ wurden. Asthma war seine Diagnose, gleich drei Mal mit 3, 5 und 7 Jahren wurde er für jeweils sechs Wochen auf Kur geschickt. Nach Bad Kösen, in die Hohe Tatra und nach Kroatien. Von Schönefeld flog er ohne Eltern an die kroatische Adriaküste. Ein Abenteuer. Doch die Erinnerungen an die Kuren sind gemischt.
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Gewalt und Missbrauch in BRD-Kurheimen
Während in Westdeutschland die Kinderkuren und auch die Missstände und Gewalterfahrungen, die damit oft verbunden waren, relativ gut erforscht sind, ist dies für die Kinderkuren in der DDR bisher nicht der Fall gewesen. Die Historikerin Julia Todtmann bringt nun systematisch Licht ins Dunkel.
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Todtmann forschte für eine Masterarbeit an der Freien Universität im Fach Public History und wertete Hunderte Erinnerungen der Kinder von damals und Archivmaterial aus.
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Auf dem Portal Verschickungsheime können Menschen ihre Erfahrungen von damals teilen. Die Berichte, die bisher meist aus westdeutschen Heimen stammen, sind bedrückend. Mehr und mehr Kinder, die in der DDR in den Kuren waren, teilen nun ebenfalls ihre Erinnerungen:
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Strafe stehen und Bürstenmassage
„Ich musste vor allen anderen Strafe stehen, im Speisesaal, weil ich in der Mittagsruhe gequatscht habe. Ich erinnere mich an die Bürstenmassage, das Nacktsein, auch so über den Flur zu laufen, an meine Scham. Bei der ersten Bürstenmassage bin ich fast umgekippt. Ich wurde angeschrien und sollte sofort auf das Zimmer gehen. Ab dann kompletter Blackout“, so beschreibt ein ehemaliges Kurkind seinen Aufenthalt im Kinderkurheim Dahmshöhe bei Fürstenberg/Havel (Oberhavel) in einem Leserbrief an die Märkische Allgemeine Zeitung, die über Todtmanns Arbeit berichtete.
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Mein Bekannter erinnert sich neben negativen Aspekten auch an positive. Der morgendliche Ruf: „Aufstehen, Fieber messen“ gehörte zu den nicht erfreulichen Erinnerungen. Auch das lieblose Fingernägel schneiden und das Alleinsein beim Heimweh haben sich ihm eingeprägt. Das kollektive Postkarten schreiben sei eine weitere Qual gewesen. „Da haben uns die Erzieher schon in die Feder diktiert, was wir schreiben sollten, wie schön es war“, sagt er.
Briefe an die Eltern wurden zensiert
Ein anderes Kind erinnert Ähnliches auf dem Portal:
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„Einmal hatte ich Hoffnung, dass sich an der Situation etwas ändern würde. Dass meine Eltern kommen würden, um mich abzuholen. Denn wir durften nach Hause schreiben. Wir bekamen alle eine Postkarte und ich weiß bis heute, was ich geschrieben habe: ‚Liebe Mutti, lieber Vati, die Kinder und die Erzieher sind gemein zu mir. Das Essen schmeckt nicht. Könnt ihr mich abholen kommen?‘ Der Blick der Erzieherin hat sich bei mir eingebrannt, als sie las was ich geschrieben hatte. Ich bekam eine neue Karte und musste unter Aufsicht schreiben: ‚Liebe Mutti, lieber Vati, die Kinder und Erzieher sind alle lieb. Das Essen schmeckt gut und es gefällt mir hier.‘ Damit erlosch jede Hoffnung, nach Hause zu kommen.“
Auf die Toilette im Kollektiv
Kinder in den DDR-Kurheimen sollten sich nahtlos in die Gemeinschaft auf Zeit einfügen. Es gab feste Essens-, Schlafens- und Toilettenzeiten. Wer aus der Reihe tanzte, wurde nicht selten in Protokollen als „altklug, geltungsbedürftig, nervös oder verwöhnt“, beschrieben, so Todtmann in der MAZ.
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Die sozialistische Gleichschaltung in den Abläufen war den meisten dabei aus Kindergarten und Schule bekannt. Wer sich mit den Gegebenheiten arrangierte, konnte den Kuren auch Positives abgewinnen.
Kinderkur in Kroatien
Erinnerungen an Wanderungen in den tschechischen Bergen, die tollen Filzstifte dort oder die tropische Vegetation am Strand Veli Lošinj in Kroatien sind gute Erinnerungen für meinen Bekannten. Der riesige Tannenzapfen aus der Kroatien-Kur lag noch lange im Regal zu Hause in Berlin. Die DDR war das Land mit der höchsten Staub- und Schwefelbelastung der Luft in Europa.
30.000 Kinder wurden zwischen 1968 und 1990 zu Kuren an die Adriaküste Kroatiens geschickt. Die Kuren waren erfolgreich: 98 Prozent der Patienten konnten durch die günstigen klimatischen Bedingungen geheilt werden. Als aber mit 9 Jahren eine weitere Kur in Zypern anstand, weigerte er sich, noch einmal mitzufahren.
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In der BRD war die angewandte Gewalt flächendeckender, sagt Julia Todtmann im Bericht der MAZ. Dort habe es festgeschriebene Kataloge von Gewaltmaßnahmen, wie Isolationshaft oder Fixierungen, an denen sich die Erzieher orientierten, gegeben. Die Kinder mussten Uniformen tragen und ihre Namen wurden teilweise durch Nummern ersetzt. „Das war in DDR-Heimen anders. Im Vergleich zur BRD gab es hier sehr fortschrittliche Ansätze in der Erziehung, gerade für die 50er und 60er Jahre“, so Todtmann.
Missbrauch in DDR-Heimen nicht an der Tagesordnung
Dennoch gab es auch in DDR-Heimen sexuellen Missbrauch. Betroffene wagen sich mit ihren Geschichten erst zögerlich an die Öffentlichkeit und berichten, was ihnen etwa im Kinderkurheim Dahmshöhe in Brandenburg geschah. Dahmshöhe mag ein Einzelfall sein – Hinweise auf sexuelle Übergriffe fand Todtmann für 3 von 155 ermittelten Kinderkurheimen. Schließlich waren die Heime meist relativ geschlossene soziale Systeme ohne Kontrollfunktion durch Eltern oder Schule. Dies begünstigte in Einzelfällen auch Missbrauch.
„Wir kennen die Dunkelziffer nicht“, sagt Julia Todtmann. Aber sie habe keine Belege dafür gefunden, dass sexueller Missbrauch in den Kinderkurheimen in der DDR an der Tagesordnung war.
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„Ich selbst gehöre zu den vielen kranken DDR-Kindern, denen jedes Jahr aufgrund der schweren Erkrankung ein 6-wöchiger Aufenthalt an der Ostsee, im Gebirge, in der Hohen Tatra, auf Zypern oder auf der Insel Losinj im heutigen Kroatien ermöglicht wurde. Und ich kann für mich nachträglich sagen, dass mir in all meinen Kuren eine wertschätzende, fürsorgliche Behandlung zuteil wurde“, schreibt eine Leserin der MAZ. Die Asthma-Erkrankung meines Freundes ist seit seinen Kuren sehr viel besser geworden.