Lege ich eine Europakarte vor mich auf den Tisch, und markiere die Orte, an die Menschen aus meinem Umfeld in der letzten Zeit gezogen sind, lassen sich leuchtend rote Pins an folgenden Orten finden: im Fränkischen, in Bonn, in Lübeck, in Leipzig, im brandenburgischen Speckgürtel, in Stockholm und im niederländischen Utrecht.
Das allein sind die Abgänge aus dem unmittelbaren Umfeld in der letzten Zeit, die Kollegen auf der Arbeit sind nicht einmal eingerechnet. Obwohl die Statistik sagt, dass Berlin weiter wächst – 2023 war die Zahl der Zuzüge (187.971) der dritthöchste Wert seit 1991 für die Bundeshauptstadt – fühlt es sich in meiner Blase komplett anders an. Die guten Leute gehen weg. Und wir? Wir Deppen hocken immer noch hier.
Darum ziehen die Menschen aus Berlin weg
Die Gründe, Berlin den Rücken zu kehren sind vielfältig. Die einen ächzen unter dem Stress der Großstadt. Ein Überlebenskampf sei es, manchmal nur von A nach B zu gelangen, sagt einer. Die Ellenbogen, die Sprüche, die Hatz, der Dreck und die Ignoranz gegenüber anderen Menschen machen erst traurig, dann stumpf. Eine Bekannte sagt mir, sie sei die institutionalisierte Unfreundlichkeit der Berliner einfach leid.
In anderen Familien wollen sich die Eltern den Stress der Schulplatzsuche für ihre Kinder nicht mehr antun. Anderswo genügt eine formlose Anmeldung in den Sommerferien, raunen sie. Der größte Pull-Faktor aber sind fehlende Wohnungen. Nach Monaten der Suche nach einer größeren und bezahlbaren Wohnung gibt eine Familie auf und zieht zurück in die alte Heimat.
Überhaupt sind es oft Menschen im mittleren Alter, die sich den Härten der Hauptstadt nicht mehr gewachsen sehen. Das Nervenkostüm ist angegriffen, angefasst wanken sie durch einen schnell getakteten Alltag und sehnen sich nach dem Altwerden im Grünen.

Wohl dem, der eine Heimat hat, in die er zurückkehren kann
Wohl dem, der ein Häuschen geerbt, eine Heimat hat, in die er zurückkehren kann, nach dem großen, anstrengenden Abenteuer Berlin. Die Glücksritter, die Zugezogenen, die Abenteurer sind in die Jahre gekommen, wer kann, sucht sich nun ein Plätzchen am Ofen. Hart war Berlin schon immer, doch immer mehr Menschen sehen keinen Vorteil mehr darin, sich hier zu behaupten. Wozu der ganze Schwermut, woanders lebt es sich gesünder.
Für die Verlassenen aber ist jeder dieser Umzüge auch eine Frage: Und, wie hältst du es mit der Treue? Der Lack ist ja ab, vorerst, Klappe zu, Affe tot. Der Tingeltangel hat sich müde getanzt. Das Gold ist gehoben, die kreativen Acker durchpflügt. Die Avantgarde ist längst weitergezogen, raus aus dieser, meiner abgehalfterten Stadt, die sich trotzig mit dem Ärmel über die Augen fährt, damit bloß niemand es darin schimmern sieht.

Doch ist all das ein Grund, ebenfalls das Handtuch zu werfen? Wir Urberliner zögern nur kurz. Natürlich bleiben wir hier. Berlin hat sich immer wieder berappelt, wissen wir. Wir bleiben, auch wenn der Abstieg aus der ersten Liga längst vollzogen ist. Mach mal den Rücken gerade, Mädchen, Berlin ist eben nichts für Weicheier.
Untergehakt mit den anderen letzten Mohikanern sehen wir die Sonne am Morgen in den Scheiben des Fernsehturms blitzen. Das Licht, wenn früh die Tauben am Bahnhof Eberswalder aufsteigen, ist manchmal noch immer magisch.
Und aus der Platte in Hellersdorf, der Studentenbude im Wedding, aus einer der letzten unsanierten Altbauwohnungen in Prenzlauer Berg oder der Familienwohnung, in der die Eltern gerade ins Wohnzimmer ziehen, damit die Kinder jedes ein eigenes Zimmer bekommen, höre ich es deutlich: Berlin ist immer noch meine Stadt. Wenn sie jemand kaputt reden darf, dann die, die hier bleiben.
Sitzen Sie auch auf gepackten Koffern und verlassen die Stadt? Erzählen Sie uns, warum Sie Berlin den Rücken kehren und schreiben Sie an leser-bk@berlinerverlag.com ■