Opfer eines Femizids

50 Mal wurde auf sie eingestochen: Wie sich Henriette W. zurück ins Leben kämpfte

Der Fall machte vor sechs Jahren Schlagzeilen. Ihr Partner griff sie im Schlaf an. Gerettet wurde die Lehrerin, weil ihre neunjährige Tochter den Notruf wählte.

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In diesem Haus versuchte Robert R. seine Lebensgefährtin zu töten. Die Tochter verhinderte den Mord, als sie die Polizei per Telefon zu Hilfe holte.
In diesem Haus versuchte Robert R. seine Lebensgefährtin zu töten. Die Tochter verhinderte den Mord, als sie die Polizei per Telefon zu Hilfe holte.zvg

50 Messerstiche, eine tiefe Wunde im Nacken, bis zu den Knochen aufgeschnittene Handgelenke, die Luftröhre und die Halsschlagader lagen nach der Messerattacke frei: Henriette W. überlebte den brutalen Angriff ihres Ex nur, weil ihre damals neunjährige Tochter geistesgegenwärtig den Notruf der Feuerwehr in Brandenburg an der Havel anrief: „Meine Mama wird gerade umgebracht“, sagte ein Kind mit weinender Stimme. Sechs Jahre ist das her: Jetzt traut sich die 38-Jährige erstmals darüber zu sprechen – über die Tat, wie sie überlebte und zurück ins Leben fand.

Henriette W. mag die Frage nach ihrem Befinden nicht. „Man sieht auf den ersten Blick nichts mehr, und deshalb kommen oft Kommentare wie: Was will sie denn? Ihr geht es doch gut“, erzählt die 38-Jährige in der Berliner Zeitung. Lehrerin ist sie, unterrichtet in der vierten und sechsten Klasse, aber bis heute ist die Mutter von zwei Kindern nur bedingt dienstfähig. Vier Stunden am Tag kann sie arbeiten, dann ist sie erschöpft.

„Ich wollte mit meinen Händen wieder eine Hundeleine halten können“

An ihren Händen erkennt man Spuren des Messerangriffs. Die Finger sind leicht gekrümmt, lassen sich nicht mehr vollständig strecken. Adern, Sehnen, Nerven – alles war damals kaputt. Jede Woche muss Henriette W. zur Ergotherapie. Ohne die drohen die Finger, in eine Art Krallenstellung zurückzufallen. „Besser als jetzt wird es mit den Händen nicht mehr“, sagt sie.

Die 38-Jährige hat heute einen Hund. Einen Labrador-Mischling, eine ausgebildete Therapiehündin. Zweimal pro Woche nimmt sie ihn mit in die Schule. Sie wünschte sich das Tier, als sie schwer verletzt auf der Intensivstation lag: „Ich wollte mit meinen Händen wieder eine Hundeleine halten können“, sagt sie zur Berliner Zeitung.

Henriette W. wurde Opfer eines Femizids. Der Täter: ihr langjähriger Partner Robert R. (Name geändert), Elektromonteur und Wasserballer. Nach außen hin eine Bilderbuchfamilie. Mit Doppelhaushälfte in Brandenburg an der Havel, mit zwei Kindern. 16 Jahre lang sind Henriette W. und Robert R. liiert. Der Weg in die Katastrophe ist ein langer.

Als sich das Paar 2014 eine Doppelhaushälfte kauft, beginnen sich die Dinge zu ändern. Robert R. achtet auf jeden Cent, als Henriette zum zweiten Mal schwanger wird, zwingt er sie abzutreiben. Sie darf erst wieder schwanger werden, als das erste Kita-Jahr in Brandenburg kostenlos wird, schreibt die Berliner Zeitung. R. wird immer häufiger wütend, beleidigt sie, schreit sie an, würgt sie und tritt nach ihr.

Auch als 2018 ihr Sohn zur Welt kommt, ändert das nichts. Nur noch nach außen gibt sich Robert R. charmant, Henriette merkt nach der Elternzeit, dass sie lieber in der Schule ist als zu Hause. Und dann lernt sie in der Schule einen anderen Mann kennen. Einen, der freundlich ist, ihr zuhört ...

Der heute 38-Jährigen ist klar: Sie will raus aus der Beziehung mit Robert R. Und überraschenderweise willigt er ein, als sie von Trennung spricht. Ohne wütend zu werden. Am Abend des 9. April 2019 bietet er Henriette W. sogar an, sie könne mit den Kindern noch solange in dem Haus bleiben, bis sie eine Wohnung gefunden habe, schreibt die Berliner Zeitung.

50 Messerstiche, zwei Messer brechen ab, dann greift er zum Brotmesser

Bevor sie einschläft, schreibt sie ihrem neuen Bekannten eine SMS: „Heute ist Robert mit allem einverstanden. Ich weiß gar nicht, wann wir uns das letzte Mal so gut unterhalten haben.“ Doch Robert R. scheint an dem Abend nur geschauspielert zu haben. Wenige Stunden später rastet er aus, sticht mit einem Messer auf die schlafende Henriette W. ein. Sie erwacht, wehrt sich. 50 Messerstiche, zwei Messer brechen ab, dann greift er zum Brotmesser. Um 2.23 Uhr wählt die verzweifelte Tochter den Notruf.

Glück in der Katastrophe: Der erste Polizist, der am Tatort eintrifft, hat durch einen Auslandseinsatz eine erweiterte Sanitätsausbildung – und kann die schwersten Verletzungen fachmännisch versorgen, bevor ein Notarzt eintrifft. Zehn Stunden lang muss sie anschließend operiert werden.

Henriette W. überlebt. Sie kann monatelang keinen Becher halten, keine Schnürsenkel binden, nicht selbstständig Zähne putzen oder zur Toilette gehen, erzählt sie in der Berliner Zeitung. „Ohne meine Familie und Freunde hätte ich es nicht geschafft“, sagt sie heute.

Jetzt hat sich die 38-Jährige dazu entschlossen, über ihr Schicksal reden – auch, um anderen Frauen zu helfen, die von Gewalt in der Partnerschaft betroffen sind. „Die höchste Form der häuslichen Gewalt ist der Femizid“, sagt die zweifache Mutter zur Berliner Zeitung. Und es gebe in Deutschland immer mehr solcher Fälle. Sie möchte, dass unsere Gesellschaft viel aufmerksamer wird, wenn es um Gewalt gegen Frauen geht, Familiengerichte genau prüfen, ob ein gewalttätiger Mann den Umgang mit den Kindern nicht nur deshalb sucht, um wieder Macht über die Frau zu erlangen.

„Ich liebe Dich“: Henriette W. lacht. Glücklich

Robert R. wurde 2020 vom Landgericht Potsdam wegen versuchten Mordes zu einer Haftstrafe von 14 Jahren verurteilt. Die Richter sprachen von einer übersteigerten Kränkbarkeit, Selbstmitleid und einem emotionalen Ausnahmezustand, der zu der impulsiven, nicht geplanten Tat geführt habe. Das heißt: Robert R. kann bei guter Führung nach zwei Dritteln der Haftstrafe aus dem Gefängnis freikommen. Henriette W. sagt, dass sie sich sorgt, dass ihr niemand Bescheid sagt und sie ihm eines Tages unverhofft begegnet.

Die inzwischen fast 16-jährige Tochter will keinen Kontakt mehr zum Vater. Der kleine Sohn, der vor einem halben Jahr eingeschult wurde, kennt Robert R. als „Bauchpapa“, zum Lebensgefährten seiner Mutter sagt er „Herzpapa“, schreibt die Berliner Zeitung. Heute sei sie glücklich, sagt Henriette W. Sie hätte zuvor nicht gewusst, wie leicht und unbeschwert so eine Beziehung sein könne. Sie kann jetzt Grenzen setzen. Sagen, was sie will und was nicht. Zum Ende des Gesprächs mit der Reporterin der Berliner Zeitung piept das Handy der 38-Jährigen. Ihr Lebensgefährte hat ihr eine SMS geschrieben - „Ich liebe Dich“. Henriette W. lacht. Glücklich. ■