Einem Anhänger des 1. FC Union muss niemand erklären, welche Wirkung späte Tore haben. Am liebsten natürlich, wenn es in dem Kasten klingelt, den der gegnerische Schlussmann hütet. Solch ein Treffer ist der Traum eines jeden Fußballers. Ein Tor, das entscheidende womöglich, in allerletzter Sekunde zu erzielen, das bleibt. Ältere Semester vergessen das 3:2 von Mario Maek einst in Karl-Marx-Stadt nicht, jüngere Fans, vor allem seit dem Aufstieg in die Bundesliga, hatten ebenso des Öfteren Grund zum Jubeln in Momenten, als die Uhr eigentlich schon abgelaufen war. Max Kruse, bei einem 2:1 gegen Leipzig, köpfte, Taiwo Awoniyi, bei einem 3:2 gegen Bochum, schoss die Rot-Weißen so nach Europa. Und dass Janik Haberer gefühlt erst vor ein paar Wochen den Klassenerhalt auf der wahrlich letzten Rille sicherte, haben wahrscheinlich alle noch vor ihrem geistigen Auge.
Tore in der Nachspielzeit schreiben Fußballgeschichte
Späte Tore waren einst das Merkmal des (bundes-)deutschen Fußballs. Nicht immer wurden sie von einem Erfolg gekrönt, Geschichte geschrieben haben sie trotzdem und für Spektakel sorgten sie sowieso. So das 2:2 durch Wolfgang Weber im WM-Finale 1966, ohne dass es in der Verlängerung das Wembley-Tor nicht gegeben hätte. Worum hätten sich seit Jahrzehnten Engländer und DFB-Deutsche sonst am liebsten streiten sollen. Hätte Bernd Hölzenbein im EM-Endspiel 1976 gegen die Tschechoslowakei nicht mit dem letzten Versuch zum 2:2 ausgeglichen, Uli Hoeneß wäre das Trauma eines in den Belgrader Nachthimmel versenkten Elfmeters erspart geblieben.
Die Fußball-Historie wäre um einen dramatischen Abend ärmer geblieben und die Gegner des nunmehrigen FC-Bayern-Patrons hätten für ihre Häme einen handfesten Grund weniger auffahren können. Oder anders: Die Mutter aller verschossenen Elfmeter eines Deutschen (Hoeneß) ist einem späten Tor eines Mitspielers (Hölzenbein) zu verdanken. Und das, obwohl der Münchner und der Frankfurter zwei Jahre zuvor gemeinsam Weltmeister geworden waren.

Auch auf Vereinsebene sind es meist die späten Tore, die in Erinnerung bleiben. In anderen Sportarten heißt so etwas Sudden Death, plötzlicher Tod. Weil der Gegner, so wie die Männer um Kapitän Christopher Trimmel beim späten 0:1 in Mönchengladbach, keine Zeit mehr für eine Antwort bekommen. Was bleibt, ist, wenn der Gegner völlig losgelöst jubelt, nur noch grenzenlose Leere. Spätestens in einem solchen Augenblick ahnt jeder, wie sich die Bayern nach dem Champions-League-Endspiel 1999 gefühlt haben, als Manchester United in den zusätzlichen Sekunden aus einem 0:1 ein 2:1 gemacht hat. Oder, noch einmal die Münchner, als sie dreizehn Jahre später gegen den FC Chelsea auf diese Weise den Ausgleich kassierten, später das Elfmeterschießen und damit das „Finale dahoam“ vergeigten.
1. FC Union kassiert bittere späte Tore
Ganz so gebeutelt ist der 1. FC Union, auch wenn jeder einzelne verdammt weh tut, durch späte Gegentreffer in der Bundesliga nicht. Pro Saison kassierten die Eisernen in der Nachspielzeit im Durchschnitt nicht einmal eines, das am Ende Punkte kostete. Im Premierenjahr passierte das zu Hause gegen Leverkusen, als Karim Bellarabi das späte 2:3 (90.+4) erzielte.
Im Spieljahr 21/22 geschah es in Stuttgart, als Wahid Faghir für die Schwaben zum 1:1 (90.+3) ausglich. Am Ende der Vorsaison wurde es nach dem 2:3 in Köln, das ebenso in der dritten Minute der Nachspielzeit fiel, richtig brenzlig. Zuvor hatten die Köpenicker in der Champions League zweimal auf den allerletzten Drücker eine übergebraten bekommen: beim 0:1 bei Real Madrid durch Jude Bellingham und zu Hause beim 2:3 gegen Sporting Braga jeweils in der vierten zusätzlichen Minute.
Gegen Gladbach jubelte der 1. FC Union auch schon spät
Insofern hätten die Männer von Trainer Bo Svensson ihr diesbezügliches Soll für diese Saison bereits erfüllt. Allerdings haben sie mit dem 0:1 im Borussia-Park, das in der sechsten Minute der Nachspielzeit fiel, einen Vereinsrekord aufgestellt. Es ist ihr bisher spätestes Gegentor in ihrer Bundesligahistorie. Sie selbst können so etwas auch, und sogar noch etwas knapper. Als Danilho Doekhi am 30. Oktober 2022 in der siebten Minute der Nachspielzeit zum 2:1-Sieg einköpfte, stand das Stadion An der Alten Försterei kopf. Der Gegner damals: Borussia Mönchengladbach.
Vielleicht war das jüngste 0:1, obwohl man so etwas am besten nie vergleichen sollte, so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit. Ausgesprochen ärgerlich bleibt es trotzdem. Einmal Segen, das nächste Mal eben Fluch. ■