Es ist 113 Jahre her, dass die Titanic, zur damaligen Zeit das luxuriöseste Passagierschiff der Welt, bei ihrer Jungfernfahrt nach Amerika mit einem Eisberg kollidierte. Das Schiff sank, rund 1500 Menschen kamen bei der Tragödie ums Leben. 1500 Menschen, von denen jeder eine eigene Geschichte hatte. Viele fuhren nach Amerika, weil sie dort auf ein Leben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten hofften. Doch ihr Leben endete im eisigen Wasser des Atlantiks. Die Geschichte der beiden Brüder Michel und Edmond aber ist eine ganz besondere: Sie wurden von ihrem Vater mitten in einem Streit ums Sorgerecht entführt. Und erlebten auf der Titanic eine wahre Nacht des Schreckens.
Michael (4) und Edmond (2): Sie wurden von ihrem Vater mit der Titanic entführt!
Noch heute gibt es zahlreiche Fotos, die von den Passagieren der Titanic angefertigt wurden. Viele Bilder, die unmittelbar nach der Tragödie und in den Wochen nach dem Untergang der Titanic entstanden, zeigen die Überlebenden. Ein Bild fällt dabei besonders ins Auge: Zwei kleine Kinder, die nebeneinander stehen, eines der beiden schaut nach unten, das andere blickt erstaunt nach oben. Auf einem Foto blicken beide erstaunt Richtung Fotograf, auf den Lippen des kleineren Kindes deutet sich ein Lächeln an. Zwei unbeschwerte Kinder? Nein – es handelt sich um die Brüder Michael (4) und Edmond (2), die den Horror des Titanic-Untergangs miterleben mussten.
Die beiden Jungen waren die Kinder von Michel Navratil, einem in Frankreich lebenden Schneider, und der Italienerin Marcella Caretto. Michel Jr. Navratil kam am 12. Juni 1908 zur Welt, sein Bruder Edmond Roger Navratil am 5. März 1910. Anfang 1912 trennten sich die Eltern. Während sich das in Scheidung lebende Paar vor Gericht um das Sorgerecht stritt, waren die Kinder in der Obhut der Behörden. Am Ostermontag des Jahres 1912 – es war der 8. April – verbrachten die beiden Jungen den Tag mit ihrem Vater – doch der brachte die Kinder nicht zurück. Er entführte sie, kaufte ein Ticket für die RMS Titanic. Sein Plan: Er wollte mit den Kindern nach Amerika, um dort ein neues Leben zu beginnen.

Das Trio ging in Southampton in England am 10. April 1912 an Bord der Titanic. Sie hatten ein Ticket zweiter Klasse, das auf einen Decknamen ausgestellt worden war. Der Vater nannte sich Louis M. Hoffman, hatte die beiden Söhne unter den Namen John und Fred angemeldet. Im Passagierverzeichnis, das Schriftsteller Walter Lord in seinem Buch „Die letzte Nacht der Titanic“ veröffentlichte, sind Vater und Söhne in der ersten Klasse als „Hoffmann, Mr. und zwei Kinder (Lolo und Louis) registriert.
Vater Michel Navratil gab sich auf der Titanic als Witwer aus, nutzte falsche Namen
Anderen Passagieren an Bord erzählte er während der Fahrt eine Geschichte, die wesentlich trauriger war als die Wirklichkeit: Die Frau und Mutter der beiden Kinder sei gestorben, er selbst Witwer. Damit die Wahrheit nicht ans Licht kam, passte er ohne Unterbrechung auf Michel und Edmond auf, gab die beiden nur einmal in die Obhut einer französischsprachigen Frau, um selbst an Bord des Schiffes Karten spielen zu können.

Als Erwachsener erinnerte sich der damals vier Jahre alte Michel an die Eindrücke, die er auf der Titanic bekam. „Ein prächtiges Schiff“, sagt er. „Ich erinnere mich, wie ich den Rumpf entlang blickte – das Schiff sah prächtig aus. Mein Bruder und ich spielten auf dem Vorderdeck und waren begeistert, dort zu sein. Eines Morgens aßen mein Vater, mein Bruder und ich Eier im Speisesaal der zweiten Klasse.“ Das Meer sei atemberaubend gewesen – und er habe sich rundum wohlgefühlt.
Michel und Edmond von der Titanic: Das waren die letzten Worte ihres Vaters
Wie viele andere Passagiere ereilte auch die kleine Familie in der Nacht vom 14. Auf den 15. April 1912 der blanke Horror: Nachdem die Titanic um 23.40 Uhr mit dem Eisberg kollidiert war, begab sich Michel Narvatil mit einem weiteren Mann in die Kabine, wo die Kinder schliefen. Er weckte die beiden Söhne und brachte sie in das Faltboot D. Es handelte sich um das letzte Rettungsboot, das erfolgreich von der Titanic zu Wasser gelassen wurde.
Als letzte Worte soll er seinem älteren Sohn Michel einen Gruß an die Mutter mit auf den Weg gegeben haben. „Mein Kind, wenn deine Mutter dich abholen kommt, was sie sicher tun wird, sag ihr, dass ich sie sehr geliebt habe und immer noch liebe“, soll er laut Aussage von Michel Jr. gesagt haben. „Sag ihr, ich habe erwartet, dass sie uns folgt, damit wir alle glücklich zusammen in Frieden und Freiheit in der Neuen Welt leben können.“

So erlebte der kleine Michel den Untergang der Titanic
Der kleine Michel habe auch in jener verhängnisvollen Nacht kaum Angst verspürt, berichtete er als Erwachsener. Er muss zu jung gewesen sein, um das Ausmaß der Katastrophe zu verstehen. „Ich kann mich nicht erinnern, Angst gehabt zu haben, ich erinnere mich eher an das Vergnügen, als wir – plumps! – ins Rettungsboot fielen“, sagte er. „Wir landeten neben der Tochter eines amerikanischen Bankiers, die ihren Hund retten konnte – niemand hatte Einwände. Es gab große Unterschiede im Wohlstand der Menschen an Bord, und mir wurde später klar, dass wir gestorben wären, wenn wir nicht in der zweiten Klasse gewesen wären.“ Die meisten Menschen, die es auf ein Rettungsboot schafften, hätten dafür gelogen und betrogen oder seien aggressiv geworden. „Die Ehrlichen hatten keine Chance.“
Michel und Edmond wurden nach dem Untergang der Titanic „Titanic-Waisen“ genannt
Michel und Edmond wurden mit dem Rettungsboot in Sicherheit gebracht, ein Passagier namens Hugh Woolner, der ursprünglich zu den Reisenden der Ersten Klasse gehörte, kümmerte sich um die Kinder. Schnell wurden sie nach der Rettung als „Titanic-Waisen“ bezeichnet, weil sie sich als Kleinkinder nicht verständlich machen konnten, schon gar nicht auf Englisch. Mithilfe mehreren Veröffentlichungen in Zeitungen gelang es später allerdings, die Mutter zu finden. Sie segelte daraufhin nach New York und traf die beiden Kinder. Zurück brachte sie sie an Bord des Schiffes Oceanic.
Michel arbeitete als Erwachsener als Professor für Philosophie, sein Bruder Edmond arbeitete als Dekorateur, wurde später Architekt. Edmond kämpfte mit der französischen Armee, kam in Kriegsgefangenschaft. Zwar schaffte er es, aus dem Camp zu fliehen, doch weil seine Gesundheit so sehr gelitten hatte, starb er am 7. Juli 1953 im Alter von 43 Jahren. Sein älterer Bruder Michel starb im Alter von 92 Jahren am 30. Januar 2001 in der Nähe von Montpellier in Frankreich – er war zu dem Zeitpunkt der älteste männliche Überlebende an Bord der Titanic. ■