Brandt, Kohl, Schröder

Neuwahlen zum Bundestag: die verrücktesten Kanzler-Aufholjagden

Die Umfragen geben SPD-Kanzler Olaf Scholz keine Chance, doch er glaubt fest an seinen Sieg. Wahl-Wunder gab es immer wieder: die spektakulärsten Beispiele der Bundesgeschichte.

Author - Joane Studnik
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Helmut Kohl 1989 bei einer Veranstaltung Ende 1989 in Dresden: Ostdeutschland rettete dem CDU-Politiker die Kanzlerschaft.
Helmut Kohl 1989 bei einer Veranstaltung Ende 1989 in Dresden: Ostdeutschland rettete dem CDU-Politiker die Kanzlerschaft.imago/Sven Simon

Sie hatten keine Chance – und ergriffen sie trotzdem: Immer wieder standen Bundeskanzler mit ihren Parteien bei Umfragen vor den nächsten Wahlen im Keller. Kanzler Olaf Scholz kann sogar auf seine eigene Erfahrung zurückgreifen: Alle Wahl-Trends sprachen gegen seinen Erfolg bei den Bundestagswahlen im September 2021. Doch am Ende eines erstaunlichen Wahlkampfes lag er vor der Union und bildete die inzwischen gescheiterte Ampelkoalition mit Grünen und FDP. Doch es gab noch viel verrücktere Aufholjagden in der Geschichte der Bundesrepublik. Die spektakulärsten Wahl-Wunder!

1972: Willy Brandt übersteht Misstrauensvotum, stellt Vertrauensfrage und wird wieder Bundeskanzler

Helmut Schmidt (l.) und Willy Brandt bei einem gemeinsamen Wahlkampf-Termin
Helmut Schmidt (l.) und Willy Brandt bei einem gemeinsamen Wahlkampf-Terminimago/Funke Foto Services

Über das vielleicht verrückteste Jahr der Bundestagsgeschichte wurden ganze Bücher geschrieben. Im April 1972 versuchte die Union den damals umstrittenen SPD-Bundeskanzler Willy Brandt zu stürzen. CDU und CSU gifteten gegen die Ostpolitik des Kanzlers und leiteten schließlich ein konstruktives Misstrauensvotum ein: Oppositionsführer Rainer Barzel (CDU) sollte stattdessen Bundeskanzler werden. Doch der Plan scheiterte, es fehlten zwei Stimmen – einer der Abweichler war CSU-Abgeordneter Leo Wagner, der Jahrzehnte später als Stasi-IM aufflog.

Brandt blieb im Amt, stellte dann aber wenige Monate darauf selbst die Vertrauensfrage mit dem Kalkül, dass er sie verlöre – ganz so, wie das nun Kanzler Scholz plant. Am 22. September 1972 verlor Brandt die Abstimmung, bereits am 19. November 1972 wurde neu gewählt. Brandt machte den kurzen Wahlkampf zum Plebiszit über seine Ostpolitik. Das Ergebnis war eine Rekord-Wahlbeteiligung von 91,1 Prozent, die SPD fuhr ihr historisch bestes Wahlergebnis ein: 45,8 Prozent. Schon 1974 stürzte Brandt dann aber über die Guillaume-Affäre: Die DDR hatte Günter Guillaume als Spion im Kanzleramt platziert.

1990: Ostdeutschland rettet Helmut Kohl die Kanzlerschaft

1982 stürzte Helmut Kohl als Oppositionsführer SPD-Kanzler Helmut Schmidt mit einem konstruktiven Misstrauensvotum. Zuvor war Schmidts Koalitionspartner, die FDP, zur Union übergelaufen. Wenngleich Kohl mit seiner üppigen Statur und pfälzischem Akzent häufig verspottet wurde, erreichte er 1983 und 1987 aus heutiger Sicht sensationelle Wahlergebnisse für die Union. Doch in der folgenden Legislaturperiode sank Kohls Popularität massiv, es kam zu innerparteilichen Zank mit populären CDU-Politikern um Heiner Geißler und Rita Süssmuth, die Kohl den Sieg bei den für 1990 angesetzten Bundestagswahlen nicht mehr zutrauten.

In den Meinungsumfragen der BRD stand die Union 1989 miserabel da. Doch dann wendete sich das Schicksal: DDR-Bürger wagten die Revolution, brachten die Mauer zum Einsturz. Die erstmals frei gewählte Volkskammer beschloss 1990 das Ende der DDR, machte so den Weg frei für die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl am 2. Dezember 1990. Bereits aus der Volkskammerwahl 1990 ging die CDU als mit Abstand stärkste Partei hervor, doch bei den anschließenden Bundestagswahlen gelang Kohl die Sensation, als Kanzler der Einheit noch mehr Stimmen aus dem Osten auf sich zu ziehen und Verluste in Westdeutschland so gut wie auszubügeln. 1998 wurde er von Gerhard Schröder (SPD) als Kanzler abgelöst.

2005: Schröder stellt Vertrauensfrage, holt massiv auf – und verliert am Ende doch

SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder wagte mit den Grünen eine Koalition, die von Beginn an in schweres Fahrwasser geriet: Auslands-Militäreinsätze, die islamistischen Anschläge vom 11. September 2001 und die Erwartung, dass sich Deutschland am internationalen „Kampf gegen den Terror“ beteiligt – das war vor allem für die vormalige Anti-Kriegs-Partei, die Grünen, eine heftige Belastungsprobe. Bereits 2001 sah sich Schröder veranlasst, die Vertrauensfrage zu stellen, sicherte sich damit aber zunächst die Mehrheit im Bundestag.

2005 stellte er sie erneut, nachdem seine Partei mehrere Landtagswahlen verloren hatte und die Kanzlermehrheit im Bundestag nicht mehr sicher war. Tatsächlich ging Schröder davon aus, die Abstimmung zu verlieren, und so kam es zu Neuwahlen, bei denen die SPD Umfragen zufolge völlig chancenlos dastand. In TV-Duellen mit Angela Merkel, Kanzlerkandidatin der Union, punktete Schröder mit seinem zur Schau gestellten Selbstvertrauen gegen die eher zurückhaltende Merkel. Umfragen in Anschluss an die TV-Duelle ließen Schröder als Gewinner dastehen. Wahl-Trends vor der Bundestagswahl deuteten schließlich auf ein Patt zwischen den beiden Lagern Rot-Grün und Schwarz-Gelb. Am Ende landete die SPD nach einer spektakulären Aufholjagd doch knapp hinter der Union. Seine Niederlage wollte Schröder am Wahlabend nicht einräumen, doch Merkel blieb gelassen und übernahm die Regierungsgeschäfte Ende November 2005. ■