
Der Spielzeugbär misst 15 Zentimeter. Früher war er quietschgelb, heute ist er nur noch ein schmutziges Relikt vergangener Zeiten. Auf den Fotos der Kriminaltechniker wirkt der Gummi-Teddy, der einst Kinderlachen kannte, wie ein stummer Zeuge eines schrecklichen Verbrechens. Jahrzehntelang lag er verborgen – in einer Jauchegrube, abgedeckt mit einer Europalette.
Es war der 14. August 2011, als ein Grundstückseigentümer in der Uferstraße von Fürstenwalde die alte, mit Schutt verfüllte Sickergrube ausheben ließ. Gegen 17 Uhr machte er einen bizarren Fund: den verdreckten Teddy, eine verrostete Gitterbox, eine verbeulte Fischbüchse. Auf deren Deckel stand noch lesbar: Seelachsstreifen, 1,60 Mark, haltbar bis 1976. Doch das, was der Mann dann in der Grube entdeckte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren – menschliche Knochen.
Sie gehörten zu einer Frau, die irgendwann, vor langer Zeit, ermordet und in der stinkenden Brühe versenkt worden war.
Katja Rambow sitzt in ihrem hellen Büro bei der Mordkommission der Polizeidirektion Ost in Frankfurt (Oder). Vor ihr auf dem Bildschirm: Fotos aus dem Jahr 2011. Der verschmutzte Teddy. Die Fischbüchse. Die verrostete Box. Und schließlich die Knochen – dunkel verfärbt, stark verwest. Die 49-Jährige klickt konzentriert, ihr Blick ernst. Seit April des vergangenen Jahres arbeitet sie hier – und sie hat ein Faible für alte, ungelöste Fälle.
„Die Akten auseinanderzunehmen und nach neuen Ansätzen zu suchen, das ist mein Ding“, sagt sie.

Fünf dicke Leitzordner, dazu Sonderbände – Rambow hat alles durchgearbeitet. Sie hat sich eine Mindmap angelegt, jede Spur, jedes Indiz, jede Idee ist dort verzeichnet. Immer wenn kein aktueller Fall drängt, versucht sie, die Puzzleteile zusammenzufügen, die ihre Kollegen seit 2011 gesammelt haben. Eine Sisyphusarbeit.
Ihr Chef, Maik Zimmermann, leitet die Mordkommission und den Fall der „Toten aus der Jauchegrube“. Der 61-Jährige ist ein alter Hase. „Um ein Tötungsverbrechen aufzuklären, muss man die Identität des Opfers kennen“, erklärt er. Doch auch nach 14 Jahren wissen die Ermittler nicht, wer die Frau war.
Sicher ist nur: Das Skelett lag 1,65 Meter tief in der Grube. Die Frau war etwa 20 Jahre alt, 1,60 Meter groß, hatte gepflegte Zähne und eine kleine Füllung. Ihre Haare waren sieben bis zehn Zentimeter lang. Verletzungen am Schädel belegen, dass sie erschlagen wurde.
Tote trug Malimo-Strickwaren
Die Rechtsmediziner sind sich sicher: Die Tote wurde zu DDR-Zeiten in der Jauchegrube entsorgt – vermutlich zwischen 1965 und 1975. Der Täter wollte wohl, dass sie nie wieder ans Licht kommt.
Das Bundeskriminalamt analysierte damals die Reste der Kleidung. Die Frau trug Malimo-Strickwaren – typisch für die DDR der 1960er-Jahre. Auch Strumpfhalter und Strümpfe passten in diese Zeit. Sogar Reste von hochwertigen Lederschuhen wurden gefunden. Doch ob sie wirklich der Toten gehörten, blieb unklar.

Die DNA der Toten wurde entschlüsselt und mit über hundert Vermisstenfällen aus der DDR und Westdeutschland abgeglichen – ohne Treffer. Auch das Melderegister von Fürstenwalde brachte keine Spur. Niemand hatte die Frau vermisst.
Eine Theorie lautete, die junge Frau habe in den Westen fliehen wollen, ihre Familie deshalb keine Vermisstenanzeige erstattet. Doch Chefermittler Zimmermann glaubt das heute nicht mehr: „Das war eine Überlegung. Doch hätte sie sich nicht spätestens nach der Wende melden müssen?“
Sogar kleinste Papierfetzen gaben Rätsel auf. Sie stammten aus einer alten Ausgabe der DDR-Soldatenzeitschrift Armeerundschau. Ermittler suchten Sammler auf, verglichen Hefte Seite für Seite – bis klar war: Die Schnipsel stammten aus dem Juni-Heft 1965. Doch ob das etwas mit dem Mord zu tun hat, blieb offen.
Die Ermittler sind überzeugt: Der Täter kannte den Ort genau. Die Grube lag auf dem Gelände einer Sero-Annahmestelle, wo zu DDR-Zeiten Altglas und Papier gesammelt wurden – kein Ort, an den Fremde einfach gelangten.
Die Fahnder suchten alle früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sero-Stelle. Über hundert Namen kamen zusammen, unzählige Befragungen gabe, viele der Angestellten von einst sind indes längst verstorben. Katja Rambow zeigt auf ihre Liste: „Die dunkel unterlegten sind bereits tot, die mit dem grünen Häkchen wurden befragt.“

2019 gingen die Ermittler mit ihren Erkenntnissen an die Öffentlichkeit. Sie veröffentlichten Fotos der Fundstelle und eine Gesichtsrekonstruktion der Toten. Doch auch das brachte keinen Durchbruch.
Dann, 2022, ein neuer Ansatz: Eine Isotopenanalyse in München. Sie sollte klären, woher die Frau stammte – und das Ergebnis überraschte selbst erfahrene Ermittler.
„Wir wissen jetzt, dass unser Opfer aus dem asiatischen Raum kommt, aus der Mongolei, Kasachstan, Südrussland oder Korea“, sagt Katja Rambow.
Das Gutachten zeigte: Die Frau ernährte sich in jungen Jahren von viel Fisch, hochwertiger Nahrung mit Proteinen, dazu Mais, Hirse und Zuckerrohr. Kurz vor ihrem Tod hatte sich ihre Ernährung verändert – sie aß typisch deutsche Kost. Die Expertinnen und Experten schätzen, dass sie höchstens zwei Jahre in Mitteleuropa lebte.
Die Analyse veränderte alles. Nun suchten die Fahnder in alten Meldedaten von Fürstenwalde, Spreenhagen, Beeskow und Briesen. Sie schrieben die Botschaften der Mongolei, Russlands, Nord- und Südkoreas an. Auch das Bundeskriminalamt bat seine Verbindungsbeamten in den Ländern um Hilfe.
„In Fürstenwalde wurden an der Ingenieurschule und im Reifenwerk durchaus Ausländer ausgebildet“, sagt Zimmermann. „Darunter waren auch Asiatinnen.“ Gegenüber der Sero-Annahmestelle befand sich ein Wohnheim der Ingenieurschule. Doch Listen mit Namen ausländischer Studenten? Fehlanzeige.
Katja Rambow recherchierte weiter. Sie fand heraus: Mehr als 12.000 Mongolinnen und Mongolen absolvierten in der DDR eine Ausbildung. Schwangere Frauen mussten das Land verlassen – manche tauchten unter.
Suche nach Visa, Fotos, Namenslisten
Um an Namen zu kommen, wandte sich Rambow im Juli an das Bundesarchiv, das auch die Stasi-Unterlagen verwahrt. Sie fragte nach Behörden, die Ein- und Ausreisen registrierten, nach Visa, Fotos, Namenslisten. „Bestenfalls gibt es Fotos“, sagt sie. „Irgendwer muss doch in der DDR einen Überblick gehabt haben, wer ins Land gekommen ist.“
Katja Rambow will das Rätsel unbedingt lösen. Und auch ihr Chef will Antworten – bevor er im kommenden Jahr in Pension geht.
„Mord verjährt nicht“, sagt Maik Zimmermann. Er und sein Team geben nicht auf. Sie wollen wissen, wer die junge Frau war, die vor Jahrzehnten in einer Jauchegrube verschwand – und warum sie sterben musste.
Noch wirkt der Fall wie ein Puzzle, das fast fertig ist. Nur ein Teil fehlt: der Name der Toten.