Neue Reiseregelung

„Aktuelle Kamera“ am 9. November 1989: Angelika, was liest du da?

Über die neue Reiseregelung und damit den faktischen Fall der Mauer informiert die DDR-Nachrichtensendung, als hätte sie keine historische Tragweite. Sprecherin Angelika Unterlauf zeigt sich gewohnt sachlich und ohne Emotion.

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Sprecherin Angelika Unterlauf in der „Aktuellen Kamera“ am Abend des 9. November1989. Im Hintergrund die legendäre Pressekonferenz von Günter Schabowski.
Sprecherin Angelika Unterlauf in der „Aktuellen Kamera“ am Abend des 9. November1989. Im Hintergrund die legendäre Pressekonferenz von Günter Schabowski.dpa

Die „Aktuelle Kamera“ war die Hauptnachrichtensendung des DDR-Fernsehens. Wie jeden Tag beginnt sie auch am 9. November 1989 um Punkt 19.30 Uhr. Angelika Unterlauf, die bekannteste Sprecherin, liest die Nachrichten – wie immer betont sachlich. Dass diese Sendung und der Abend Geschichte schreiben werden, ist an der Präsentation kaum zu merken.

Die erste lange Nachricht der „Aktuellen Kamera“ beginnt noch ganz im trockenen Stil des sozialistischen Staatssenders: „Das Zentralkomitee der SED hat heute auf seiner zehnten Tagung beschlossen, die 4. Parteikonferenz vom 15. bis 17. Dezember in Berlin durchzuführen. Sie hat das Ziel, die aktuelle Lage in der Partei und im Lande einzuschätzen, die Aufgaben zur weiteren Vorbereitung des zwölften Parteitages zu beraten und Veränderungen im Zentralkomitee zu beschließen.“

So informiert Angelika Unterlauf von den neuen Reiseregelungen

Angelika Unterlauf liest die zweite große Nachricht ihrer Sendung vor, während ein Foto von einer Pressekonferenz eingeblendet wird. Es ist die Internationale Pressekonferenz von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski.  Unterlauf trägt vor, schaut dabei meist auf ihren Zettel, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen: „Über den heutigen Beratungstag informierte Günter Schabowski am Abend die internationale Presse. Dabei gab er auch einen Beschluss des Ministerrates zu neuen Reiseregelungen bekannt. Demzufolge können Privatreisen nach dem Ausland ab sofort ohne besondere Anlässe beantragt werden.“

„Die Bestimmung gilt bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen Regelung der Volkskammer. Die zuständigen Abteilungen der Volkspolizei sind angewiesen, auch Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen. Damit entfällt die ständige Ausreise über Drittstaaten.“  Dann wird ein Ausschnitt der Pressekonferenz eingespielt.

SED-Politbüromitglied Günter Schabowski bei der Pressekonferenz am 9. November 1989, als er die neue Reisefreiheit verkündete.
SED-Politbüromitglied Günter Schabowski bei der Pressekonferenz am 9. November 1989, als er die neue Reisefreiheit verkündete.dpa

Die historische Tragweite der Aussagen Schabowskis wurde mit keinem Wort erwähnt oder kommentiert. Für die folgenden Nachrichten dieser „Aktuellen Kamera“-Sendung dürfte sich kaum mehr jemand interessiert haben. Viele Menschen in der DDR hatten jetzt nur ein Ziel: Ab an die deutsch-deutsche Grenze! Den Fall der Mauer live erleben.

Menschen auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989.
Menschen auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989.Peter Kneffel / dpa

In der „Tagesschau“ verkündet Jo Brauner den Mauerfall

In Westdeutschland beginnt an diesem geschichtsträchtigen Tag wie immer um 20 Uhr die „Tagesschau“. Sprecher am 9. November 1989 ist Joachim „Jo“ Brauner. Gleich zu Anfang wird eine Deutschlandkarte gezeigt – mit der schriftlichen Verkündung: „DDR öffnet Grenze“. Dann spricht Brauner: „Guten Abend, meine Damen und Herren. Ausreisewillige DDR-Bürger müssen nach den Worten von SED-Politbüromitglied Schabowski nicht mehr den Umweg über die Tschechoslowakei nehmen. Dies kündigte er am Abend vor der Presse in Ost-Berlin an.“

Darauf folgt ein Beitrag von einem Reporter: „Die abendliche Pressekonferenz von Politbüromitglied Günter Schabowski plätscherte über eine Stunde so dahin – dann, ganz am Ende plötzlich das Thema Flüchtlingswelle und diese Mitteilung“ –  es folgt Schabowskis historische Mitteilung.

Nachdem die Nachrichten in Ost und West von der Öffnung der Mauer vekündet wurde, machten sich viele Tausende auf den Weg zu den Grenzen. Wie hier am Kirchhainer Damm in Berlin.
Nachdem die Nachrichten in Ost und West von der Öffnung der Mauer vekündet wurde, machten sich viele Tausende auf den Weg zu den Grenzen. Wie hier am Kirchhainer Damm in Berlin.Matthias Krause / epd

Als das „heute journal“ um 21.45 Uhr im ZDF beginnt, ist die „Aktuelle Kamera“ erst rund zwei Stunden her. Die Nachrichtenkollegen im Westen zeigen gleich zu Beginn einen Ausschnitt aus der abendlichen DDR-Sendung. Dann heißt es: „Am Abend dann am Brandenburger Tor spontane Reaktion von Berlinern – sie rufen unentwegt: ,Tor auf'." Ein DDR-Bürger am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße sagt zur Frage, ob er überrascht sei: „Nee, eigentlich nicht. War vorauszusehen, musste ja was kommen.“ (mit dpa)