Am Montagabend bekommt Berlin ein neues weißes Geisterrad. Ein Rad, das an eine junge Frau erinnern soll, die am 27. Juli von einem Betonmischer überrollt und zwölf Tage später im Krankenhaus verstarb. An diesem Montag ab 17.30 Uhr treffen sich Radfahrer und Freunde zu einer Mahnwache am Unfallort, an der Karl-Liebknecht-, Ecke Mollstraße in Berlin-Mitte. Nicht die einzige schlimme Nachricht für Radfahrer: Jetzt kommt raus, dass der Berliner Senat beim Radweg-Ausbau kaum vorankommt, seine eigenen Ziele weit verfehlt.
Die 26-Jährige, die an den Folgen des Unfalls starb, ist schon der siebente getötete Radfahrer in diesem Jahr. Die junge Frau fuhr am 27. Juli mit einem Fahrrad die Karl-Liebknecht-Straße entlang in Richtung Prenzlauer Allee. Laut Polizeibericht bog ein 42-Jähriger mit einem Betonmischer aus gleicher Richtung kommend rechts in die Mollstraße ab, übersah und überrollte dabei die Radfahrerin. Sie erlitt eine Beckenfraktur und wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo sie am 6. August ihren schweren Verletzungen erlag.
Berlin: Nur 4,2 Kilometer neue Radwege
Dass in Berlin etwas für Radfahrer getan werden muss, ist klar. Aber seit vielen Jahren wird mehr versprochen als gehalten wird. Der schwarz-rote Senat hatte forsch verkündet, mehr Radwege als die Vorgängerregierung bauen zu wollen. Doch schon im zweiten Jahr wird die Ankündigung verfehlt, der Berliner Senat fällt auch in diesem Jahr hinter die selbst gesteckten Ziele zurück. Im bisherigen Jahresverlauf wurden lediglich sieben Radweg-Projekte mit einer Gesamtlänge von knapp 4,2 Kilometern für den Verkehr freigegeben, teilt die Senatsverwaltung für Verkehr auf Anfrage mit.

Das ist noch weniger, als der gemeinnützige Verein Changing Cities für das erste Halbjahr festgestellt hat. Dem Verein zufolge wurden im ersten Halbjahr immerhin 10,6 Kilometer Radwege gebaut. Wie die Differenz zwischen der Zählung des Vereins und den Angaben der Senatsverwaltung zustande kommt, blieb zunächst unklar. So oder so: Die Ziele für den Radwege-Ausbau wird der Senat in diesem Jahr wohl verfehlen.
Den Senatsangaben zufolge sind für 2024 insgesamt 24 Radwege-Projekte mit einer Gesamtlänge von 16,7 Kilometern geplant. Laut Mobilitätsgesetz hätten es allein im ersten Halbjahr 50 Kilometer im sogenannten Vorrangnetz sein sollen, teilt Changing Cities mit. Berlins Regierender Bürgermeister hatte im Jahr 2023 zudem angekündigt, bei diesem Thema mehr Tempo machen zu wollen als die rot-grün-rote Vorgängerregierung.
Im Jahr 2022 waren unter der grünen Verkehrssenatorin Bettina Jarasch rund 26,5 Kilometer Radwege hinzugebaut worden. „Ich finde, das ist keine gute Bilanz“, sagte Wegner vor rund einem Jahr. „Die Bilanz, die Frau Jarasch hingelegt hat in einem Jahr, die werden wir locker überbieten.“ Doch davon ist die schwarz-rote Landesregierung zumindest 2024 meilenweit entfernt.
Wo neue Radwege gebaut werden
Die Internetseite infravelo.de listet auf, welche Radwege gerade im Bau sind. Dazu gehören unter anderem die August-Fröhlich-Straße in Kreuzberg (340 Meter, Fertigstellung: 3. Quartal), Mariendorfer Damm in Tempelhof (1,4 Kilometer, bis 4. Quartal), die Opernroute in Charlottenburg (2 Kilometer Radfahrstreifen bzw. Fahrradstraße, 4. Quartal), Grell- und Storkower Straße in Prenzlauer Berg (1,7 Kilometer, ohne Termin), die Beusselstraße in Mitte (965 Meter, 3. Quartal), die Scharnweberstraße in Friedrichshain (552 Meter, 3. Quartal) und die Siegfriedstraße in Lichtenberg (495 Meter, 4. Quartal).
Ob das von Wegner ausgerufene Ziel weiter gilt, lässt die Senatsverwaltung offen. „Es ist unser Ziel, eine flächendeckende Radinfrastruktur in Berlin zu schaffen“, teilt sie lediglich mit. „Die Umsetzung hängt von vielen Faktoren ab, die nicht immer nur in unserer Hand liegen, so dass man sich hier nur schwerlich eine konkrete km-Zahl als Ziel setzen kann.“ Zudem sei es neben dem Neubau neuer Radwege auch wichtig, bestehende Strecken zu sanieren, damit diese wieder gut und sicher befahrbar seien.
Ein wesentlicher Treiber bei den CO2-Emissionen im Verkehr ist der Autoverkehr. Insbesondere den Kommunen kommt deshalb eine wichtige Rolle zu, mehr Menschen zum Umstieg vom Auto auf den Umweltverbund aus Bus, Bahn und Fahrrad zu bewegen. 2018 verabschiedete die damalige Berliner Landesregierung deshalb das sogenannte Mobilitätsgesetz. Der Kern: Der Umweltverbund soll in der Hauptstadt Vorrang haben vor dem Autoverkehr.

Bis 2030 schreibt das Gesetz in Berlin ein dichtes Fahrradwegenetz aus sogenannten Radschnellwegen und gewöhnlichen Routen mit einer Gesamtlänge von 2700 Kilometern vor. Die Radschnellwege sollen eine möglichst rasche Fahrt aus den Außenbezirken in die Innenstadt gewährleisten, mit möglichst wenigen Zwischenstopps. Damit könnte das Rad auf diesen Routen eine echte Alternative zum Auto werden.
Doch schon die Vorgängerregierung geriet in erheblichen zeitlichen Verzug bei der Umsetzung. Ursprünglich waren zehn solcher Verbindungen geplant, eine wurde schon 2022 gestrichen. Anfang August hieß es von Changing Cities, dass die Planungen für acht weitere Routen eingestellt worden seien.
Changing Cities verklagt Berliner Senat wegen Untätigkeit
Auf Anfrage widerspricht der Senat dieser Darstellung. „Es gibt für die Radschnellverbindungen bisher zwar unterschiedliche Planungsstände, aber keine Streichungen“, teilt eine Sprecherin mit. Allerdings sei aufgrund der angespannten Haushaltslage eine realistische Einschätzung und Terminierung der Finanzierbarkeit aller Projekte derzeit nicht möglich.
„Prioritär“ würden derzeit allerdings nur drei Radschnellwege weiterbearbeitet. Dabei handele es sich um den Radschnellweg Nr. 3 auf dem Kronprinzessinnenweg zwischen Wannsee und Charlottenburg entlang der Autobahn A 115. Dieser ist schon jetzt gut ausgebaut und wird insbesondere von Rennradfahrern rege genutzt. Umgesetzt werden sollen in Teilen auch die Routen 5 und 9, die zur sogenannten Ost-West-Route gehören.
Der Verein Changing Cities will den Senat zu mehr Tempo beim Thema Radwegesicherheit zwingen. Aus diesem Grund hat er erst im Juli eine sogenannte Untätigkeitsklage beim Verwaltungsgericht Berlin eingereicht. Das Verwaltungsgericht bestätigte den Eingang der Klage (Az.: VG 11 K 580/24).
Konkret geht es um fünf Berliner Straßen, für die der Verein die Anordnung sogenannter geschützter Radwege für nötig hält. Entsprechende Anträge seien von Betroffenen, die die betreffenden Straßen etwa als Arbeits- oder Schulweg nutzten, schon vor einem halben Jahr eingereicht worden. Im Mai habe der Senat angekündigt, die Prüfungen seien fast abgeschlossen. Seitdem sei nichts passiert.
Die Organisation will die Verkehrsverwaltung zum Bau sicherer Radinfrastruktur an der Leipziger Straße in Mitte, der Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg, der Hermannstraße in Neukölln, der Kaiser-Friedrich-Straße in Charlottenburg und der Treskowallee in Lichtenberg verpflichten. ■