Diese Berlinerin gehört zu den ältesten Menschen der Welt: Mit ihren 110 Jahren ist Gertrud Oertel aus Treptow-Köpenick die älteste Bürgerin des Bezirks – nur noch weitere 6 Jahre und sie wäre so alt wie der älteste lebende Mensch der Welt. Und fit ist sie auch, und zwar so richtig! „Ich bin selber überrascht“, sagt sie immer wieder und lacht.
Der KURIER hat die 110-Jährige nur Tage vor ihren Geburtstag in Schöneweide besucht. Natürlich wollen wir erst mal wissen, ob es einen Trick gibt, wie man so alt werden kann. Sie schüttelt den Kopf: „Ich weiß auch nicht, wie ich so alt werden konnte, ich lebe doch einfach nur“, sagt sie und winkt ab. Und wie kann man mal kurz ein Jahrhundert Lebenszeit zusammenfassen? Wir haben uns eine halbe Stunde für das Interview abgesetzt – da haben wir uns aber was vorgenommen ...
Gertrud wurde 1914 in Brandenburg, in der Nähe von Potsdam, beim Seddiner See geboren. „Man nannte mich Trudchen und meine Kindheit war schön“, sagt sie. Ihre Eltern waren liebevoll. Sie erzählt von einer frühen Erinnerung, als sie sich in einer Hundehütte bei den Hunden versteckt hatte. Ihre Eltern suchten nach dem kleinen Mädchen. „Die dachten, ich wär im Seddiner See ertrunken. Hätte ja sein können“, sie zuckt mit den Schultern. Aber dass sie ihren Eltern einen großen Schrecken eingejagt hatte, wusste die kleine Trudchen ja nicht, kuschelig bei den Hunden zusammengekauert. Sie lächelt. „Ich war ein fröhliches Kind! Und später kam so viel Trauer.“

Gertrud Oertel aus Treptow-Köpenick ist die älteste Bürgerin des Bezirks
Wir sitzen auf dem Sofa, immer wieder krault Gertrud den namenlosen Wuschelkater, den sie von einer verstorbenen Freundin übernommen hat – in Katzenjahren nähert sich dieses Tier dem Alter von Gertrud. „Mein Prinz“, murmelt sie, als der Kater nach ihr die Pfoten ausstreckt.
„Dann zogen wir nach Michendorf.“ Ihr Papa aus Sachsen, der Fliesenleger war, hatte „ein tolles Haus für die Mama gebaut.“ Plötzlich steht sie auf, geht flink zum Kleiderschrank, durchwühlt die Taschen ihrer Jacken. „Ich suche ein kleines Buch, ich will dir das Foto vom Haus zeigen ...“ Geschickt kramt sie sich durch den Schrank. „Ach, hier ist es“, ruft sie.
Das Haus hatte sogar eine Heizung, so modern – „mein Papa hatte meine Mama so lieb“. Er war gut zu allen: „Er war immer ruhig, lieb und gerecht. Manchmal, wenn er böse auf uns war, sollten wir das ‚Lied von der Glocke‘ (Friedrich Schiller) auswendig lernen oder er gab uns Hausarrest – manchmal bei Sonnenschein, dann hat man sehnsüchtig herausgeguckt.“

Singen, Tanzen, Lachen – das Rezept zum alt werden!
Samstags ging es, für sie immer zum Tanzen. „Und wie ich tanzte! Ich liebte es! Und zu singen!“ Sie lacht, und stellt dann fest: „Ach ja, und gelacht habe ich auch richtig viel in meinem Leben!“ Aber wenn Gertrud zurückdenkt, wird sie auch manchmal ernst. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war schrecklich, sagt sie. Obwohl sie nur ein Kind war, ging es an ihr nicht vorüber. Ein harter Schicksalsschlag war der Verlust der Mutter. „Wir alle bekamen Grippe, die ganze Familie, meine Mutter pflegte uns alle, bis sie selbst, als Letzte, erkrankte und verstarb.“
...O zarte Sehnsucht, süßes Hoffen,
Der ersten Liebe goldne Zeit,
Das Auge sieht den Himmel offen,
Es schwelgt das Herz in Seligkeit;
O dass sie ewig grünen bleibe,
Die schöne Zeit der jungen Liebe! ...
Auch denkt sie an ihre erste Jugendliebe zurück. „Es ist nicht einfach, durchs Leben zu gehen, und mit allem klarzukommen.“ Schnell trocknet sie sich eine Träne von der Wange. Sie waren jung, verliebt, wollten zueinander. Das Glück hielt nur kurz, denn der junge Mann, Gertruds erste große Liebe, verstarb viel zu früh. Der Schmerz dieses Verlustes ist bis heute für sie spürbar.

Zeugin des Zweiten Weltkrieges: „Ich glaube nicht mehr an Gott“
Auch die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg lösen noch heute Angst bei ihr aus. Im Gespräch erzählt sie mehrmals von Ereignissen, wo sie Leid und Tod hautnah miterlebte: wie Flugzeuge abstürzen, der Fliegeralarm. Die Erinnerungen an dieses schreckliche Kapitel der Weltgeschichte trägt Gertrud tief in sich. „Diese Züge... die Juden.“ Hier kommen so starke Gefühle auf, es wird schwer für sie weiterzuerzählen. „Ich habe meinen Glauben verloren. Ich glaube nicht mehr an Gott, denn wenn er wäre, hätte er es nicht zugelassen.“ Ihre Hände zittern. „Und wenn er ist, warum nur?“ Sie schaut auf ihre Hände. „Gott ist nicht“, sagt sie entschieden.
„Es kamen nicht viele Männer aus dem Krieg zurück“, erinnert sie sich. Erst viele Jahre später, Anfang der 60-Jahre, wo Gertrud für ihren Beruf bei der Bahn ins östliche Berlin zog, wo sie bei der Ausgabe von Fahrkarten arbeitete, lernte sie ihre zweite Liebe kennen. „Wir wollten heiraten.“ Sie versucht zu lächeln. Auch dieses Glück hielt nur für kurze Zeit.
Als auch er an einer Krankheit verstarb, entschied sich die Alleinstehende, ein Kind aus dem Kinderheim in der Südostallee zu adoptieren. „Meine Ute, dieser Lockenkopf, am Montag kommt sie zu meinem Geburtstag!“ Nun steht ihr die Freude ins Gesicht geschrieben. Auch der Bürgermeister kommt, um zu gratulieren.
110-jährige Gertrud Oertel aus Treptow-Köpenick: „Ich bin eine Lachtaube!“
Schon längst haben wir die Interviewzeit überzogen – draußen fängt es an zu dämmern. Wir müssen noch Fotos machen, bevor es zu dunkel wird. Sie steht auf, zupft sich die Haare ein wenig zurecht, und lehnt sich an die Sofa-Lehne und lächelt. Klick, klick, klick. Wie findet sie diese Fotos? „Ach, ich bin doch so eine hässliche Pute“, sagt sie lachend. Aber du schaust doch so toll aus, wenn du lachst. „Ich bin ja auch eine Lachtaube!“
Für die nächsten Fotos lächelt sie extradoll und erzählt, dass jede zweite Woche die Friseuse kommt, und ihr die Haare schneidet. „Früher haben wir uns die Dauerwelle immer selber gemacht.“ Auch insgesamt schaut sie so elegant aus, stellt die KURIER-Reporterin fest. „Ja, der Kleiderschrank ist ja voll mit schönen Klamotten von meinen Cousinen von der anderen Seite, also Westberlin“, sagt sie.

An die Zeit hinter der Mauer kann Gertrud sich gut erinnern. Obwohl sie Mitte ihres Lebens einen Schlaganfall hatte, und mehrere Wochen medizinisch versorgt werden musste, sind die Bilder der Vergangenheit klar, und je länger wir uns unterhalten, desto lauter wird das Gespräch – wir sind längst beim Du, fallen einander ins Wort, wir lachen laut – die Erzählungen von Früher schildert sie immer detaillierter.
„Wir machten Urlaub an der Ostsee und im wunderschönen Bad Schandau. Diese Landschaft“, schwärmt sie. Da sie bereits zu Zeiten der DDR Rentnerin wurde, durfte sie auch den Westen besuchen. Aber die Nacht des Mauerfalls sitzt tief in ihren Gedanken. Da war Hoffnung, aber auch Angst und Euphorie. „Gott sei Dank, war das wieder in Ordnung!“ Dann schüttelt sie den Kopf: „Warum immer diese Stänkereien!“ Sie meint politisch, aber auch zwischenmenschlich.
Die ganze Welt ist durcheinander. Die wollen wieder Krieg, da zittere ich, wenn ich das alles so höre.

110-jährige Berlinerin: „Ich wünsche euch Frieden und Freiheit!“
Auch die Nachwendezeiten waren nicht nur „goldig“. „Die Westler waren nicht nur nett, erst haben sie sich gefreut, aber auch gingen da so Stänkereien los. West und Ost sind sich nicht nur um den Hals gefallen.“ Und heute? „Ich denke, der eine oder andere stänkert heute noch rum.“ Wie denkst du über die derzeitige Weltlage? „Die Zukunft sehe ich schwarz. Die ganze Welt ist durcheinander. Die wollen wieder Krieg, da zittere ich, wenn ich das alles so höre. Der Krieg, den wir hatten, war schlimm genug! Ich wünsche euch Frieden und Freiheit!“
Seit 2019 ist Gertrud in einer Wohngemeinschaft vom Pflegedienst Gardé in Treptow-Köpenick zu Hause – auch die Wohngemeinschaft plant anlässlich des Geburtstags eine Überraschung. Denn 110 Jahre müssen gefeiert werden! Der KURIER fragte die rüstige Berlinerin, was man ihr zum Geburtstag schenken darf: „Blumen und Zeug“ hat sie genug. „Ich wünsche mir, dass Kinder in Kinderheimen ein gutes Leben haben!“ Liebe KURIER-Leser und Berliner, wenn Sie Gertrud ein Geschenk machen wollen, können Sie die Kinderheime der Stadt unterstützen.

„Die machn hier’n richtig jutn kräftijen Kaffee, da hab ick jestaunt“
Ein weiterer Wunsch wäre, wenn es mehr Menschen geben würde, die Zeit haben, mit den Alten der Stadt mal Zeit zu verbringen, Spaziergänge zu machen, sich länger zu unterhalten. Denn dass die Pflegekräfte ausgelastet sind, ist ja kein Geheimnis. „Es gibt so viele alte Menschen, die sich über Gesellschaft freuen würden.“ Auch sie sehnt sich danach. Hilfe braucht die 110-Jährige übrigens nicht. Flink schmiert sie sich ihr Brötchen zum Nachmittagskaffee. „Mann kann nicht jeden Tag Kuchen essen.“
Das Brot soll ordentlich geröstet sein. Die Butter trägt sie gekonnt dick auf. „Bleibt mir mit Margarine vom Hals! Ich will Butter. Ich esse ein halbes Pfund die Woche.“ Da rennt die 110-Jährige bei der KURIER-Reporterin offene Türen ein, Butter ist einfach das Beste. Mit den Kaffeetassen stoßen wir auf ihren baldigen Geburtstag an: „Die machn hier’n richtig jutn kräftijen Kaffee, da hab ick jestaunt“, sagt sie.
