Diagnose ME/CFS: „Den Schmerz aushalten wie ein verwundetes Tier“
Miriam Amer leidet seit 20 Jahren an ME/CFS. Jetzt, wo die Krankheit nach der Covid-Pandemie in aller Munde ist, gibt es Hoffnung auf neue Therapien, doch die sind teuer.

Zwei junge Frauen stecken die Köpfe zusammen, sie lächeln. Der Wind streift durch ihre Haare. Miriam, eine der beiden auf dem Foto, erinnert sich gut an den Moment, in dem das Bild mit ihrer jüngeren Schwester, Sabrije, aufgenommen wurde. „Es war auf dem Feld“, sagt sie. Und meint das Tempelhofer Feld, das sich in der Nähe von Miriams Wohnung erstreckt. Da, wo der Himmel weit ist, wo sich Berlin nicht nach Großstadt anfühlt, sondern nach großer Freiheit. „Das war ein guter Tag“, sagt Miriam.
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Miriam Amer war schon lange nicht mehr unbeschwert draußen, auf dem Feld nicht und auch nicht anderswo. Den Himmel sieht sie meist nur gerahmt von ihrem Fenster im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses an einer lauten Straße in Tempelhof. Frei ist Miriam nur in ihren Gedanken.
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Miriam Amer ist eine der Hunderttausenden, die an der heimtückischen Krankheit ME/CFS leiden. Doch Kranke wie Miriam sind selten sichtbar. Ihr Leiden spielt sich in verdunkelten Zimmern ab, unter Bettdecken, hinter Türen, die sich selten für Besuch öffnen. Es ist Sabrije, die ihrer älteren Schwester hilft, in der Öffentlichkeit gehört zu werden, die hilft, dass Miriam hinter der Krankheit hervorscheinen kann.
Sabrije hat im Internet eine Spendenkampagne für Miriam initiiert. Die Hoffnung auf Besserung lässt ME/CFS-Betroffene nach allen verfügbaren Therapien greifen. Dass es nun neue Ansätze und endlich mehr Forschung zu ME/CFS gibt, liegt an der Corona-Pandemie.
Therapie-Hoffnungen für ME/CFS-Patienten
Erst während der Pandemie rückten die Menschen, die nach der Erkrankung einfach nicht mehr auf die Beine kamen, stärker in den Fokus der Öffentlichkeit und auch in den Fokus der Wissenschaft. Miriam Amer leidet schon seit zwei Jahrzehnten an ME/CFS. Einen Namen hat ihr Albtraum aber erst seit kurzem.
Rückblickend macht die 45-Jährige eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus als Wendepunkt in ihrem Leben aus. „Ich kam einfach nicht wieder auf die Beine“, sagt Miriam. Damals hat die junge Mutter zwei kleine Kinder, müde und erschöpft sein, das sei normal, glauben alle nach der schweren Infektion.
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Vor der Virus-Erkrankung hatte Miriam Amer optimistisch in die Zukunft geblickt. „Ich wollte mich, sobald die Mädchen im Kindergarten wären, beruflich entdecken, interessierte mich für Sozialpädagogik, für Kommunikationspsychologie“, sagt sie. Doch noch Monate nach der Infektion hat Miriam zittrige Beine, immer wieder Schmerzen am ganzen Körper. Der Hausarzt sprach von Überlastung, die Blutwerte waren unauffällig.
Zehn Jahre Ratlosigkeit und Kraftlosigkeit vor ME/CFS-Diagnose
Ganze zehn Jahre lang schleppt sich Miriam durch ihr Leben, eine große Ratlosigkeit beginnt. Sie versucht, sich mit der Müdigkeit abzufinden, kommt mit dem Haushalt nicht hinterher, muss Ausflüge mit den Kindern sein lassen. „Innerlich habe ich mir übel genommen, dass ich nicht so funktioniert habe wie andere Mütter“, sagt sie und erinnert sich, wie sie damals versucht hat, Zusammenhänge zu finden, die ihren fragilen Gesundheitszustand erklären.
Miriam dreht an der Ernährung, fastet, sucht nach hormonellen Zusammenhängen und kommt nicht weiter. Weitere gesundheitliche Krisen schütteln ihren Alltag. Gallensteine, eine Lungenembolie, die Autoimmunerkrankung Hashimoto. Doch all das kann die tiefste Erschöpfung und die wiederkehrenden Schmerzen, die Reizempfindlichkeit nicht erklären.
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„Ich habe mich permanent gefühlt, als würde ich auf einer Rolltreppe in die falsche Richtung gehen. Gegen Widerstand“, sagt Miriam. Ärzte versuchen sich an Diagnosen und landen doch immer wieder in der Psychosomatik. „Ich habe deutlich gespürt, dass körperlich etwas nicht stimmt. Darunter leidet natürlich auch der Geist“, sagt Miriam. „Doch wenn man das immer wieder unter Beweis stellen muss, ist das sehr anstrengend.“
Diagnose ME/CFS ist eine Erleichterung
Als eine Hausärztin vor vier Jahren die Diagnose ME/CFS stellt, das myalgisch encephalomyelitische Fatiguesyndrom, ist das eine Erleichterung. Doch selbst in der Charité, einem der wenigen Zentren für die Erkrankung, gibt es bisher keine Therapie, keine Heilung. Bis auf die Empfehlung, „Pacing“ zu betreiben, also die verfügbare Kraft gut einzuteilen, gibt es kaum erprobte Ansätze.
Vielversprechend sind Versuche, in einer Art Blutwäsche Antikörper aus dem Körper zu entfernen. Immunadsorption und Plasmapherese werden bei einer Reihe von Autoimmunerkrankungen erfolgreich eingesetzt, sie werden auch bei ME/CFS erprobt. Doch die Datenlage nach der Behandlung ist noch dünn, die Krankenkassen bezahlen die Behandlung nicht. Die Berichte seien aber ausreichend motivierend, um kontrollierte Studien in sehr gut definierten Settings von Long-Covid-Ambulanzen zu rechtfertigen, heißt es etwa von der Gesellschaft für Nephrologie in einer Stellungnahme. Sabrije und Miriam sammeln Spenden für eine solche Behandlung.
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Wie ein verletztes Tier aushalten
Währenddessen versucht Miriam, ihre Kraft einzuteilen. „Ein guter Tag ist, wenn ich im Alltag in der Wohnung etwas machen kann. Aber ich werde nie ganz fertig.“ An den Wänden ihrer Altbauwohnung lehnen Leinwände, Farbspritzer auf den Dielen erinnern daran, dass Miriam früher gern gemalt hat.
An schlechten Tagen kommt sie heute kaum aus dem Bett. „Dann warte ich nur, bis es wieder Abend wird. Es ist wie ein Aushalten. Ich fühle mich wie ein verletztes Tier, das den Zustand erträgt.“ Sich so wenig Reizen wie möglich aussetzen. Schmerzmittel nehmen oder nicht? Das sind die Gedanken, die dann einen Tag füllen.

Das Leben vor der Erkrankung ist weit weg. „Ich erinnere mich gerne daran, wie wuchtig sie diskutieren konnte; mit wie viel Kraft sie sich auszudrücken wusste und wie viel Leidenschaft in ihren Plädoyers steckte, wenn sie sich mit Unrecht oder Ungerechtigkeit Mitmenschen gegenüber konfrontiert sah“, sagt Sabrije Moulla. „Ebenso viel Kraft steckte in ihren Schlägen, wenn sie in ihrer Freizeit Badminton spielte. Ich erinnere mich daran, wie sie beim Badminton-Spielen über die Wiese tanzte oder wie fröhlich und berauscht vom Freiheitsgefühl auf dem Fahrrad sie aussah, wenn sie mit ihrem Rad aus der Oberschule angedüst kam, mit roten Wangen, durchgepustet vom Wind.“
Angst, durch ME/CFS ein Pflegefall zu werden
Nun ist Miriams Lebensmittelpunkt eine graue Couch und ein Bett im Wohnzimmer. „Am meisten belastet mich die Sorge darüber, dass sich die Situation verschlechtern könnte“, sagt Miriam. Sie habe Angst davor, ein wirklicher Pflegefall zu werden. Bisher kommt Miriam allein zurecht. Einkäufe lässt sie liefern. Den Sohn, der bald aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen wird, will sie unbedingt ziehen lassen. „Ich will ihn nicht aufhalten.“ Miriam versucht ihren Kindern zu vermitteln, dass alles im Leben einen Sinn hat und sie sich keine Sorgen machen sollen. „Meine Kinder und meine Familie geben mir die Motivation, am Leben zu bleiben und nicht aufzugeben.“
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„Damit, dass ich Abstriche von den Vorstellungen in meinem Leben machen muss, damit komme ich klar“, sagt sie. Doch der Gedanke, für andere eine Belastung zu sein, der quält. „Wie jeder Mensch möchte ich am Leben teilhaben. Etwas Sinnvolles tun, mich einbringen“, sagt Miriam.
„Mutig war Miriam schon immer, das hat die Krankheit ihr nicht genommen“, schreibt ihre Schwester in dem Spendenaufruf. „Für mich ist die Vorstellung kaum auszuhalten, dass sie täglich Schmerzzustände hat, die wir Nichtbetroffene nur erfahren, wenn wir mit 39°C Fieber und Gliederschmerzen im Bett liegen, oder nachdem wir einen 10 km Lauf getan haben.“
Es ist diese Sehnsucht nach dem alten Leben, danach, den Körper wieder benutzen zu können, als Vehikel zu Alltag, Teilhabe, Schönheit, Sinnhaftigkeit, die ME/CFS-Patienten immer wieder äußern. Sich lebendig begraben fühlend, abgeschnitten von Vitalität und Energie, ringen sie um jedes bisschen Kraft für den Lebens-Akku. Behüten den Funken, von dem sie hoffen, dass er eines Tages wieder ein Feuer wird. Was Miriam sich von der Therapie erhofft? Heilung.
Neuester Stand der Forschung zu ME/CFS – digitale Veranstaltung in Berlin
Am 12. Mai 2023 findet in Berlin ein öffentliches ME/CFS-Symposium zu Forschung und Versorgung am Charité Fatigue Centrum statt. Das Symposium stellt den aktuellen Stand von Projekten zur Versorgung und Erforschung von ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) vor. Schirmherr des Symposiums ist Prof. Dr. Karl Lauterbach, Bundesminister für Gesundheit. Ziel des Symposiums ist es, Betroffene und die Öffentlichkeit über den aktuellen Stand der Forschung und Versorgung zu ME/CFS in Deutschland zu informieren. ME/CFS tritt auch als schwerste Form des Post-Covid-Syndroms auf.
Das ME/CFS-Symposium richtet sich an Erkrankte und deren Angehörige, Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Medizin und Medien sowie an die allgemeine Öffentlichkeit. Die Teilnahme an der Veranstaltung erfolgt digital und ist kostenfrei. Weitere Informationen zur Agenda und Link zur Anmeldung: https://mecfs-research.org/symposium2023