Dunkelheit und Stille: Licht und laute Geräusche sind für Fatigue-Patienten oft unerträglich.
Dunkelheit und Stille: Licht und laute Geräusche sind für Fatigue-Patienten oft unerträglich. Berliner KURIER/Markus Wächter

Es ist eine höllische Krankheit: Sie führt selbst beim Zähneputzen zu heftiger, langanhaltender Erschöpfung, jeder vierte Patient kommt nicht mehr aus dem Haus. Sie kann mit Kopf-, Muskel- und Gelenkschmerzen einhergehen, sogar mit Beeinträchtigung der Gehirnleistung: Der Patient findet beispielsweise Wörter nicht mehr. Die Rede ist vom Chronischen Fatigue-Syndrom ME/CFS, an dem etwa eine Viertelmillion Menschen in Deutschland leidet. Eine Berliner Studie hat jetzt nachgewiesen, dass eine Covid-19-Erkrankung selbst bei vergleichsweise milden Verläufen ME/CFS nach sich ziehen kann.

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Eine wirksame Behandlungsmethode, die zur Heilung führt, ist bislang nicht bekannt. Nur an den Symptomen wird gearbeitet. Studienleiterin Professor Dr. Carmen Scheibenbogen fordert dringend auf: „Deshalb kann ich auch jungen Menschen nur ans Herz legen, sich mithilfe einer Impfung und dem Tragen von FFP2-Masken vor einer Corona-Infektion zu schützen.“ Denn wer  schon  an Long-Covid mit vergleichbaren Symptomen leidet, muss mit mindestens  37prozentiger Wahrscheinlichkeit damit rechnenm ME/CFS zu bekommen.

Eine Viertelmillion Menschen in Deutschland leidet an der kaum erforschten Krankheit

Carmen Scheibenbogen, die Chefin des Instituts für Medizinische Immunologie im Virchow-Klinikum, leitet dort das Charité Fatigue Centrum. Es  war bereits im  Sommer 2020 von den ersten Patienten nach einer Corona-Infektion aufgesucht worden. Seither mehrten sich die Hinweise auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Covid-19 und ME/CFS. Scheibenbogen: „Diese Annahme wissenschaftlich zu belegen, ist jedoch nicht trivial. Das liegt auch daran, dass ME/CFS noch wenig erforscht ist und es keine einheitlichen Diagnosekriterien gibt.“

Durch gründliche Diagnostik und einen Vergleich mit von „Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom“  Betroffenen, die nach anderen Infektionen erkrankt waren, konnten die Forscher von Charité und Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC, Buch) nachweisen: ME/CFS kann durch COVID-19 ausgelöst werden.

Manche Patienten mit  Fatigue-Syndrom können sich nicht mehr selbst versorgen

Untersucht wurden 42 Frauen und Männer, die sich mindestens sechs Monate nach ihrer Corona-Infektion an das Charité Fatigue Centrum gewandt hatten, weil sie noch immer stark an Fatigue litten. Die meisten von ihnen konnten lediglich zwei bis vier Stunden am Tag einer leichten Beschäftigung nachgehen, einige waren arbeitsunfähig und konnten sich kaum noch selbst versorgen.

Prof. Dr. Carmen  Scheibenbogen fordert die Menschen auf, sich gegen Corona impfen zu lassen.
Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen fordert die Menschen auf, sich gegen Corona impfen zu lassen. Charité/Simone Baar

Während der akuten Corona-Infektion hatten nur drei von ihnen ein Krankenhaus aufgesucht, aber keine Sauerstoffgabe benötigt. 32  hatten einen relativ milden Verlauf durchlebt, also ohne Lungenentzündung, dafür in der Regel jedoch ein bis zwei Wochen mit starken Krankheitssymptomen wie Fieber, Husten, Muskel- und Gliederschmerzen.

Da ihre Infektion in der ersten Welle der Pandemie stattgefunden hatte, war keiner der 42  zuvor geimpft gewesen. Zum Vergleich mit ihnen zogen die Forscher 19 Personen heran, die ME/CFS nach einer anderen Infektion entwickelt hatten.

Knapp jeder zweite untersuchte Patient war nach Anstrengungen sehr lange außer  Gefecht

Knapp die Hälfte der untersuchten Corona-Patienten entwickelte das Vollbild einer ME/CFS-Erkrankung. Die andere Hälfte hatte vergleichbare Symptome, ihre Beschwerden nach körperlicher Anstrengung waren jedoch meist nicht so stark ausgeprägt und hielten nur für einige Stunden an.  

Dieses Gerät misst die Kraft, die jemand in der Hand hat. ME/CFS-Patienten mangelt es an dieser Kraft.
Dieses Gerät misst die Kraft, die jemand in der Hand hat. ME/CFS-Patienten mangelt es an dieser Kraft. Charité/Anja Hagemann

Ein Gerät, das die Kraft einer Hand misst, half bei der Erkenntnis des Zusammenhangs von Covid-19 und  ME/CFS. Denn die meisten Studienteilnehmer hatten wenig Kraft in den Händen. Symptome, Laborwerte und Handkraft wurden in Beziehung gesetzt. Carmen Scheibenbogen: „Bei den Menschen mit der weniger stark ausgeprägten Belastungsintoleranz stellten wir unter anderem fest, dass sie weniger Kraft in den Händen hatten, wenn sie einen erhöhten Spiegel des Immun-Botenstoffs Interleukin-8 aufwiesen. Möglicherweise ist die reduzierte Kraft der Muskulatur in diesen Fällen auf eine anhaltende Entzündungsreaktion zurückzuführen.“

Bei den Menschen mit der voll ausgebildeten ME/CFS „korrelierte die Handkraft dagegen mit dem Hormon NT-proBNP, das von Muskelzellen bei zu schlechter Sauerstoffversorgung ausgeschüttet werden kann. Das könnte darauf hinweisen, dass bei ihnen eine verminderte Durchblutung für die Muskelschwäche verantwortlich ist.“

Wer am Vollbild des Chronischen Fatigue-Syndroms leidet, hat wenig  Hoffnung auf Besserung

Nach vorläufigen Beobachtungen könnte die Unterscheidung der beiden Gruppen sich auch im Krankheitsverlauf spiegeln. „Bei vielen Menschen, die ME/CFS-ähnliche Symptome haben, aber nicht das Vollbild der Erkrankung entwickeln, scheinen sich die Beschwerden langfristig zu verbessern“, erklärt Prof. Scheibenbogen.

Die neuen Erkenntnisse könnten zur Entwicklung von auf ME/CFS ausgerichteter Therapien beitragen. Carmen Scheibenbogen: „Unsere Daten liefern aber auch einen weiteren Beleg dafür, dass es sich bei ME/CFS nicht um eine psychosomatische, sondern um eine schwerwiegende körperliche Erkrankung handelt, die man mit objektiven Untersuchungsmethoden erfassen kann.“