32 Jahre Dornröschenschlaf

Veritas-Nähmaschinenwerk: Einer knipst wieder das Licht an

Wittenberge in der Prignitz war einst das europäische Zentrum der Nähmaschinenproduktion. Jetzt soll auf dem alten DDR-Fabrikgelände in Brandenburg wieder Leben einziehen.

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Blick auf den Uhrenturm des ehemaligen Veritas-Nähmaschinenwerks in Wittenberge im Landkreis Prignitz. Der Turm wurde 1928/29 erbaut und gilt heute als eines der Wahrzeichen der Elbestadt.
Blick auf den Uhrenturm des ehemaligen Veritas-Nähmaschinenwerks in Wittenberge im Landkreis Prignitz. Der Turm wurde 1928/29 erbaut und gilt heute als eines der Wahrzeichen der Elbestadt.Oliver Gierens/dpa

Nur Old Joe in Birmingham ist höher: Der weithin sichtbare Uhrenturm in Wittenberge (Landkreis Prignitz) gehört zu den Wahrzeichen der Stadt und zeigt seit 1929 an, was die Stunde geschlagen hat. Der Uhrenturm an der Elbe ist der zweitgrößte freistehende Uhrenturm Europas. Und ein Symbol dafür, was mit der DDR-Industrie nach der Wende passierte. Der Turm ist verwittert, dunkel angelaufen, Putz blättert ab – 1992 ging im dazugehörigen VEB Nähmaschinenwerk Wittenberge das Licht aus. Jetzt soll es wieder angeknipst werden.

Wittenberge war einst das europäische Zentrum der Nähmaschinenproduktion. Singer, Veritas und Naumann. Große Markennamen eroberten von hier aus die Welt. Doch 1991 war Schluss, das Gelände rund um das rund 50 Meter hohe Bauwerk fiel nach der Wiedervereinigung größtenteils in einen Dornröschenschlaf.

Efeu wuchert an verrosteten Türen hoch

Kurz vor Weihnachten hat sich der KURIER auf dem Gelände umgeschaut. Efeu wuchert an verrosteten Türen hoch, verblichene Buchstaben zeigen an, wo einst die Kantine war. Das alte Betriebs-Kraftwerk ist nur noch eine Ruine. Große Teile des Geländes sehen auf den ersten Blick wie ein typischer Lost Place aus. Doch auf den zweiten Blick sieht man, dass hier alles viel besser gesichert wird. Keine zersplitterten Fensterscheiben, die Dächer sind in Ordnung, fast alle Zugänge verrammelt.

Es gibt noch ein paar Firmen gibt es auf dem Gelände, doch die großen Hallen stehen leer, ein paar werden als Lagerhallen genutzt. Doch bald könnte das Areal wieder zum Leben erwachen: Die Eigentümergesellschaft BKLV Management GmbH aus Berlin will aus dem fast 32 Hektar großen Gelände ein Innovationsquartier mit Büros, Hotels, Gastronomie und viel Kultur machen.

Wo von 1904 bis Ende 1991 Nähmaschinen produziert wurden, hat Renaud Vercouter große Pläne. Bereits zur Landesgartenschau 2027 in Wittenberge soll ein erster Abschnitt des „Veritas Parks“ fertig sein, sagt der BKLV-Geschäftsführer. Aus der ehemaligen Mensa soll ein Konferenzraum werden, der auch für Theateraufführungen oder Konzerte genutzt werden kann. Ein Hotel, ein Restaurant sowie  7000 Quadratmeter Bürofläche für Start-ups und Techfirmen sollen in den leerstehenden Werkshallen entstehen. Gut 50 Millionen Euro will die Firma investieren.

Vercouter hat nach eigenen Angaben Bauprojekte in mehreren Ländern betreut, zuletzt ein Großprojekt in Berlin. Auf der Suche nach einem neuen Objekt wurde er in der „Provinz“ fündig. Er glaubt daran, dass gerade hier etwas Großes entstehen kann. „Die Prignitz ist eine wunderschöne Gegend“, sagt er. Auch die Lage direkt am Fluss sei hervorragend. So soll ein kleiner See am Ufer im Zuge der Bauarbeiten wiederhergestellt werden.

Der 49,40 Meter hohe Turm ist verwittert, dunkel angelaufen, Putz blättert ab. Die Uhr selbst funktioniert noch.
Der 49,40 Meter hohe Turm ist verwittert, dunkel angelaufen, Putz blättert ab. Die Uhr selbst funktioniert noch.Stefan Henseke

Hinzu komme die günstige Lage von Wittenberge genau auf halber Strecke zwischen Berlin und Hamburg. Die Elbestadt verfügt über den größten ICE-Halt in Brandenburg. Bis 2026 wird die Strecke für den geplanten „Deutschlandtakt“ der Bahn fit gemacht, am Bahnhof soll ein weiteres Gleis entstehen. Die günstigen Mieten in der Region, der Trend zum Homeoffice sowie die horrend steigenden Kosten für Wohn- und Büroimmobilien in den Metropolen sind für Vercouter weitere Faktoren, warum das Geld der Investoren hier gut angelegt sei. Die Industriearchitektur der Kaiserzeit sei fantastisch, die Gebäudesubstanz in gutem Zustand.

Die US-Firma Singer baute hier 1903 ein Werk

Zudem fange man in Wittenberge nicht bei null an. Die Stadt habe eine lange Industriegeschichte. Das findet auch Christian von Hagen, der viele Jahre lang Verwalter des Geländes war. 1903 habe die US-amerikanische Firma Singer begonnen, hier ein Nähmaschinenwerk zu errichten. Es sei die größte Niederlassung der Firma in Mitteleuropa gewesen, berichtet von Hagen, der jahrelang Führungen auf dem Gelände angeboten hat.

Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Singer-Werk demontiert. Die DDR habe aber bis 1990 eine Miete für das Gelände gezahlt, auf dem nach dem Zweiten Weltkrieg das Veritas-Nähmaschinenwerk entstand. Der Volkseigene Betrieb der DDR lieferte die begehrten Maschinen sogar in den Westen. Bei Quelle und Neckermann konnte man sie einst im Katalog bestellen.

Die verwitterte Schrift zeigt, dass es hier früher einen Zugang zur Kantine gab.
Die verwitterte Schrift zeigt, dass es hier früher einen Zugang zur Kantine gab.Stefan Henseke

Nach 1990 habe die Treuhandanstalt das Werksgelände dem US-Unternehmen abgekauft. Aus dem VEB wurde eine GmbH, doch wie bei vielen DDR-Unternehmen erfüllten sich die marktwirtschaftlichen Träume nicht. Zum Jahresende 1991 gingen die Lichter aus.

In den Folgejahren habe das Gelände mehrmals die Eigentümer gewechselt. Ein Käufer aus Niedersachsen sei im Jahr 2000 insolvent gewesen, danach habe das Werksgelände unter Zwangsverwaltung gestanden, berichtet von Hagen. In den Folgejahren blieb der Aufschwung größtenteils aus, nur ein paar kleine Firmen haben sich hier angesiedelt. Der Großteil der Gebäude steht jedoch leer.

Wittenberges Bürgermeister Oliver Hermann (parteilos) hofft, dass sich dieser Zustand bald ändert. „Das Gelände hat eine historische Bedeutung ersten Grades für die Stadtentwicklung“, macht er deutlich. Deswegen sei die Stadt sehr interessiert, wenn Eigentümer Pläne hätten. „Wir sehen diese erst einmal positiv und wollen Eigentümer, wenn sie Visionen und Ziele haben, auch begleiten und unterstützen.“

2000 Arbeitsplätze und drei Hotels

In einem späteren Bauabschnitt plant Renaud Vercouter ein Hochhaus, das fast so hoch werden soll wie der unter Denkmalschutz stehende Uhrenturm. Es soll aus drei einzelnen Türmen bestehen und ein weiteres Hotel beherbergen, sowohl für Touristen als auch für Geschäftsleute. In den Gebäuden am Elbufer soll hingegen Platz für Kunst und Kultur sein: Ein großes Fotografie-Museum ist hier laut Vercouter ebenso vorgesehen wie Bars, Restaurants sowie weitere Kunst- und Kultureinrichtungen.

Mit Dornröschen-Charme: Efeu wuchert die verrosteten Türen zu.
Mit Dornröschen-Charme: Efeu wuchert die verrosteten Türen zu.Stefan Henseke

Am Ende will der Investor in einem Zeitraum von knapp zehn Jahren rund 2000 Arbeitsplätze und drei Hotels entstehen lassen, gut 250 Millionen Euro investieren, ein Teil davon aus öffentlichen Fördermitteln. Das gesamte Projekt ist laut Vercouter auf Nachhaltigkeit angelegt, etwa durch Photovoltaikanlagen. Von einem „Vorzeigeprojekt für ganz Europa“ spricht der Investor selbstbewusst. Am Ende werde die in der Nachwendezeit schwer gebeutelte Stadt „wieder gut wachsen“. ■