Dit is dufte!

Seit 111 Jahren wird hier geschwoft: Eine Liebeserklärung an Clärchens Ballhaus

Was ist Hitler-Speed und was suchte die NVA im Wandschrank? Antworten aus 111 Jahren Berlin-Geschichte gibt es in einem Buch, das jeder Berliner haben muss.

Author - Stefanie Hildebrandt
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Clärchens Ballhaus mit dem Restaurant Luna D’Oro wartet wie eh und je auf Gäste.
Clärchens Ballhaus mit dem Restaurant Luna D’Oro wartet wie eh und je auf Gäste.Clärchens Ballhaus

Kann man sich in ein Haus verlieben? Und wie man das kann!  Marion Kiesow ist einem besonderen Haus an der Auguststraße 24/25 verfallen, der Patina an den Wänden im Spiegelsaal, dem staubigen Parkett, auf dem schon seit über 111 Jahren Stühle gerückt werden. Was hat dieses Etablissement, das als Clärchens Ballhaus weltberühmt wurde, nicht schon alles gesehen? Marion Kiesow ist tief in die Historie dieses einzigartigen Ortes in der Spandauer Vorstadt eingetaucht und hat ein Buch über Berlins berühmtestes Ballhaus geschrieben. Seit dessen Erscheinen zum 100-jährigen Geburtstag 2013 hat es längst ein neues Kapitel aufgeschlagen, das Buch erschien kürzlich zum 111-jährigen Jubiläum als überarbeitete Version.

Sie fühle sich dem Haus und seiner Geschichte verpflichtet, sagt Marion Kiesow.  Wie kaum eine andere kennt die Autorin die Geheimnisse aus dem Haus in der zweiten Reihe in der Auguststraße. Einer Straße, die einst als bescheiden und ärmlich galt, von zweifelhaftem Ruf. Einer Straße, in der heute die Häuser glatt saniert und die Mieten unbezahlbar sind.

Autorin Marion Kiesow hat die Geschichte des Ballhauses in ihrem Buch „Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus“ dokumentiert.
Autorin Marion Kiesow hat die Geschichte des Ballhauses in ihrem Buch „Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus“ dokumentiert.Maurice Weiss/Ostkreuz

Galerien und Shops säumen die immer noch huckeligen Bürgersteige, eine Herausforderung für spitze Absätze.  Einzig bei der Nummer 24/25 ist der Putz noch grau und bröckelig, sind die Einschusslöcher echt. Bis in die sechziger Jahre gingen die Tanzwütigen noch durch die Bomben-Ruine des Vorderhauses zum Schwof bei Clärchen. Wir nähern uns heute durch einen bepflanzten Vorgarten unter Lichterketten dem Eingang.

Clärchens Ballhaus: Es wird Berliner Küche, fein interpretiert, serviert

An drei Sonntagen im Monat nimmt Marion Kiesow Interessierte mit auf eine Zeitreise, immer mehr junge Menschen kommen, erzählt sie. Nicht nur die, die sich an wilde Zeiten hier erinnern, sondern auch die, die an eine Zukunft glauben. Immer weiter, immer Entwicklung, ein Haus wie dieses in einer Stadt wie dieser muss die Veränderung, die sich zwangsläufig ergibt, umarmen. Dass Clärchens Ballhaus dabei immer Betreiber und Besitzer anzog, die den Geist zu bewahren wussten, ist nichts als glücklicher Zufall. Zuletzt beweist Yoram Roth, dass er Clärchens Erbe bewahren will.

Clärchens Ballhaus mit Rosen, wo bis in die 1960er Jahre eine Ruine stand.
Clärchens Ballhaus mit Rosen, wo bis in die 1960er Jahre eine Ruine stand.Clärchens Ballhaus

Clärchen heute, also: Anders als früher speist man unten im großen Saal, in dem früher getanzt wurde. Es wird Berliner Küche, fein interpretiert, serviert. Gekonnt hat „Babylon Berlin“-Ausstatter Uli Hanisch das Interieur entworfen. Vorlage dazu waren Bilder aus den 1920ern.

An den Wänden waren damals künstliche Kirschblüten und asiatische Motive dekoriert. Lampions schaukelten von der Decke, ein Knaller damals. Ein Knaller, aber anders, auch heute. Man taucht in eine schummrig elegante Boudoir-Atmosphäre ein, die Besucher den Alltag schnell abstreifen lässt. Oben, über den Köpfen der Restaurantbesucher, wird auch heute wieder im Spiegelsaal getanzt. Ein Arbeiter-Vergnügen wie früher aber ist das schicke Clärchen heute nicht mehr, so viel Ehrlichkeit muss sein.

So sah der Ballsaal bei seiner Eröffnung 1913 aus.
So sah der Ballsaal bei seiner Eröffnung 1913 aus.Maurice Weiss/Ostkreuz

Ob 86 oder 24 Jahre alt, Berliner oder von weit her – es war schon immer ein Markenzeichen von Clärchens Ballhaus, dass hier jeder jedem begegnen konnte. Marion Kiesow sah einmal eine uralte Chinesin an den Armen ihrer Söhne herausgehen, Stammgäste wie Paul oder Lona kamen, bis sie irgendwann nicht mehr kommen konnten. Auch ihre Geschichten bewahrt Marion Kiesow in ihrem großen Buch über das Ballhaus auf.

Heinrich Zille soll hier gemalt haben, wo das Leben besonders prall wogte, George Grosz liebte die Berliner Eckkneipen, Stehbierhallen und Ballsäle, er war ebenso wahrscheinlich bei Clärchen zu Gast, wie die Wasserminna, Artistin beim Zirkus Busch, die gleich um die Ecke in der Sophienstraße wohnte. Und auch moderne Promis gaben sich hier schon die Klinke in die Hand, Quentin Tarantino dreht eine Szene für „Inglorious Basterds“ mit Brad Pitt vor dem Klo.

Marion Kiesow zeigt ein Bild der Familie der Gründerin Clara „Clärchen“ und ihr Ehemann Fritz Bühler mit Tochter Margarethe.
Marion Kiesow zeigt ein Bild der Familie der Gründerin Clara „Clärchen“ und ihr Ehemann Fritz Bühler mit Tochter Margarethe.Maurice Weiss/Ostkreuz

Dieser Ort brachte Originale zum Glänzen und umgekehrt: Ganze Familien waren über Generationen hier beschäftigt. Die Schmidtkes, an Kasse und Co. etwa oder Klaus Schliebs, immer mit Fliege, am Einlass waren lange Zeit das Herz des Ballhauses.

Allen voran Günther Schmidtke, ein betagter Herr, der an der Garderobe Schuhe, Krawatten und Sakkos der männlichen Gäste in Augenschein nahm. Wer nicht passend ausstaffiert ankam, konnte bei Günther für einen Fünfer einen Schlips oder für einen Zehner das Sakko für den Abend ausleihen. Die Damen aber waren allesamt „Engelchen“ für ihn, „Verlieb dir nich“, sein Universalratschlag, den so manche wohl nicht befolgte.

Günther Schmidtke wachte an der Garderobe über die korrekte Kleidung der Gäste. Mit Jeans konnte man gleich wieder abdampfen.
Günther Schmidtke wachte an der Garderobe über die korrekte Kleidung der Gäste. Mit Jeans konnte man gleich wieder abdampfen.Sabeth Stickforth

Ehen wurden hier angebahnt, andere gingen auseinander, über all die Jahrzehnte seit der Eröffnung im Jahr 1913. Je schneller sich die Tanzpaare drehten, desto langsamer scheint im Gegenzug die Zeit im Ballhaus zu vergehen. Es gibt einen Bombenschaden am Dach, der 1945 von den Sowjets nur notdürftig repariert wurde. Wer heute im Spiegelsaal hoch zur Decke schaut, sieht ihn noch genauso wie damals. Auch die Risse in den großen Spiegeln sind im Krieg entstanden. Die Sonne lässt die Quecksilberbedampfung der Spiegel pittoresk abblättern, die Muster an der Wand verblassen allmählich und unterm Balkon, einst für die Stehgeiger, lächelt Bacchus weise dazu. Tempus fugit, die Zeit vergeht.

Heute, morgen, gestern überlagern sich hier, bilden Schichten, wie die an den Wänden, wer daran rührt, legt unweigerlich Geschichten frei. Wo kommen wir her, wo führt das Leben uns hin? An Orten wie diesen umarmt einen das Große, das Ganze wunderbare Menschsein, mit allen Krummnissen, Fehlern und allem Jubel natürlich auch. Wie viele Hände haben über den verzierten Knopf an der Treppe im Spiegelsaal gestrichen, wie viele Absätze haben das Holz auf dem Boden zum Schwingen gebracht? Schließt man die Augen, ist all das da.

Führung und Zeitreise in Clärchens Vergangenheit im Spiegelsaal
Führung und Zeitreise in Clärchens Vergangenheit im SpiegelsaalMaurice Weiss/Ostkreuz

Die Lampe im Saal ist nicht mehr original, die frühere fiel 1945 von der Decke. Die Kristallanhänger wurden aber doch jahrelang in einer Kiste aufbewahrt, bis Günther Schmidtke von der Garderobe sie mit nach Hause nahm. Weil der Platz irgendwann eng wurde, lagerte er die Kiste auf seinem Kahn. Und der ging samt Kristall eines Tages in der Müggelspree unter. Noch heute liegen die glänzenden Gläser im Schlamm, früher hätte man eine Sage aus diesem Stoff gemacht.

Ballhäuser in Berlin: alle gleich willkommen

Um die Mittagszeit geht ein Geruch von Königsberger Klopsen durch den Saal. Das hier war schon immer ein Etablissement für die Arbeiter, große Portionen, kleine Preise, so die Devise. Ballhäuser waren Orte des Vergnügens für die Massen, mitten in den Wohnvierteln, mitten im Milieu. Tanz gab es immer, Speisen auch und einen Tresen.

Seit Clärchen an der Seite ihres Mannes Fritz Bühler hier das Regiment übernahm, wehte stets ein weiblicher Geist durch die Räume. Meist waren es Frauen wie Clärchen und später Elfriede Wolff, die den Laden auch in den gröbsten Krisen auf Kurs hielten und immer wieder den Neuanfang wagten.

Die Geschichten um die Saalschwestern, den Witwenclub Tugendrose, Damenwahl und Saalpost, sind unerschöpflich und sämtlich im Buch gesammelt. Bezeichnend für die weibliche Gabe, aus Scheiße Gold zu machen, nur ein Detail: Als Wehrmachtsoldaten im Spiegelsaal Einzug hielten und Kriegspläne schmiedeten, hinterließen sie beim Abrücken massenhaft Landkarten. Clärchen schnitt Zettel daraus und noch zwanzig Jahre später wurden Bons auf die Rückseiten der Karten geklebt, Abrechnungen an der Garderobe darauf geschrieben.

Der letzte Abend vor der Sanierung. Tanz in Clärchens Ballhaus.
Der letzte Abend vor der Sanierung. Tanz in Clärchens Ballhaus.Imago/ Berlinfoto

Für ihr Buch hat Marion Kiesow jahrelang über 180 Menschen interviewt. Sie berichteten ihr von den Jahren der deutschen Teilung, als  West-Berliner sich an der Schlange vorbei kauften. Als türkische Gastarbeiter, die „Söhne des Südens“ für ihre Liebelei aus West-Berlin in den Osten anreisten und Mitternacht wieder zurück über die Grenze mussten. Wie moderne Märchen lesen sich diese Geschichten von NVA-Soldaten, die im Schrank versteckt wurden, vom vermeintlichen Goldesel aus dem Westen, der sich nach dem Mauerfall als Nur-Esel entpuppte. Manche Charaktere aus dem„Clärchen-Kollektiv“ haben Spitznamen erhalten, die in jedem Berlin-Roman funktionieren würden: Wie etwa der von Harry, dem Keuschen, der gerne feuchte Handküsse verteilte und selbstredend alles andere als keusch lebte.

Neues Gewand aus Lametta für Clärchens Ballhaus

Dass der Wandel bei Clärchen Mode ist und das Haus nur so jung bleiben kann, zeigten zwei Theaterleute 2005. Der Bühnenbildner David Regehr, die Tanzlehrerin Lisa Regehr und ihr Partner Christian Schulz betrieben Clärchens Ballhaus 15 Jahre lang und legten ihr Herz frei und auf den Tanzboden. Ein neuer Tanztempel in Mitte wurde geboren, der die Legende belebte. Der Spiegelsaal – die ganze obere Etage – war zu dem Zeitpunkt geschlossen, voll gestellt mit Gerümpel, die Fenster zugemauert. Das Haus öffnete nur noch zweimal die Woche. Schulz und die Regehrs machten das Ballhaus wieder zum brummenden Laden mit Tausenden Besuchern.

Das vorerst letzte Kapitel beginnt nun mit dem Restaurantbetrieb des Luna D‘Oro im Erdgeschoss, und regelmäßigen Tanzveranstaltungen im Spiegelsaal. Nach der Corona-Pandemie mussten die Menschen sich erst wieder ans Ausgehen gewöhnen. Seit über 111 Jahren tanzen, trinken und feiern Menschen hier. Orte, die verbinden wie dieser, kann es gar nicht genug geben.

„Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus 111 Jahre Vergnügen – eine Kulturgeschichte“ von Marion Kiesow ist im Bebra Verlag erschienen und kostet 49 Euro.