Es sind schreckliche Dinge, die Mykyta Horban in russischer Gefangenschaft erleiden musste. Schläge, Elektroschocks, Erfrierungen und Befragungen unter Folter: Doch er ist immerhin frei. Anders als sein Vater, der bis heute in einem Straflager in Russland sitzt. Beide Zivilisten machten sich nur einer Sache schuldig: Sie sind Ukrainer. Aber das war genug, um schlimmste Folter durch russische Soldaten erleiden zu müssen.
Horban berichtet, dass die ersten russischen Kräfte am 6. Tag der Invasion in sein Heimatdorf kamen. Das kleine Örtchen Andrijiwka liegt an der Landstraße T1019 etwa auf halber Strecke zwischen der Kreisstadt Makariw und Borodjanka, das von russischen Truppen heftig beschossen wurde.
Auch in Andrijiwka gab es Gefechte zwischen den ukrainischen Verteidigern und den russischen Invasionstruppen. Als die Gefechte etwas abflauten, wollte Mykyta Horbans Vater Oleksandr Holumenko nach draußen gehen, um nach dem Rechten zu schauen. Doch die Russen griffen ihn auf. „Dann kamen sie in den Keller und richteten ihre Gewehre auf uns“, berichtet Horban. „Erst als sie unser Kind sahen, senkten sie die Waffen.“

Beim Verhör gab es Schläge vor der ersten Frage
Doch sie verbanden Mykyta Horban und seinem Vater die Augen, führten beide ab. „Wir wurden sofort zum Verhör gebracht und direkt ohne eine Frage geschlagen“, berichtet der heute 32-Jährige. Das Verhör ging über Stunden. Ukrainische Positionen sollten sie verraten. Doch von denen hatten beide keine Ahnung. Horban arbeitete vor dem russischen Angriff als Laborassistent in einem Krankenhaus, sein Vater als Ingenieur und Elektriker. „Dann führten uns die Russen auf ein Feld. Dort mussten wir uns aufstellen und sie schossen mit Kugeln direkt an unseren Köpfen vorbei“, erzählt er von dieser Nacht. Nach den Scheinerschießungen schlugen sie seinem Vater mit einem Schraubenschlüssel auf die Hände, brachen ihm die Finger.
Zunächst blieben die beiden Männer barfuß, doch dann gab man ihnen die Schuhe zurück. „Aber sie haben Wasser reingegossen und uns gezwungen sie anzuziehen“, erzählt der Ex-Gefangene. Anfang März herrschten tiefe Minusgrade in der Ukraine. Drei bis vier Tage mussten sie auf dem offenen Feld bleiben, bis ein Gefangenentransport sie vorbei an der Atomruine von Tschernobyl nach Belarus brachte. „Von dort ging es mit dem Hubschrauber in die russische Region Kursk“, so Mykyta Horban.
Da habe er bereits schwere Erfrierungen an den Füßen gehabt, sein Vater einige Finger verloren. „Es gab dort erst mal keine medizinische Versorgung und zur Begrüßung wurden wir auch sofort wieder geschlagen“, erzählt er. „Einmal in der Woche bekam ich einen neuen Verband, das war es.“ Ständig habe es Verhöre gegeben, weitere Schläge und Quälereien mit Elektroschocks, unglaubliche Schmerzen.

Nur zwei diktierte Briefe in 18 Monaten erhalten
Kurz darauf wurde Mykyta Horban von seinem Vater getrennt und wegen der schweren Folgen seiner Erfrierungen in ein Lazarett geschickt. Dort wurden ihm alle Zehen abgenommen, er konnte nicht mehr laufen. Immerhin wurde er aber wegen seiner schweren Verletzungen ausgetauscht und kam zurück in die Ukraine. Doch damit begann auch die Ungewissheit. „Mein Vater ist nach eineinhalb Jahren immer noch dort“, sagt Horban. „Wir wissen nicht einmal, wo“, sagt Horbans Frau Nadija. Zwei Briefe habe man erhalten. „Darin stand nur, dass es ihm gut ginge und wir uns keine Sorgen machen sollen.“
Doch wie Mykyta berichtet, seien die Briefe zwar wohl vom Vater geschrieben. „Auch ich musste so einen Brief in Gefangenschaft schreiben. Aber der Inhalt war genau gleich und wurde mir diktiert“, so der Freigelassene. Eine offizielle Mitteilung, wo der 54-Jährige überhaupt ist und was ihm vorgeworfen wird, gibt es bis heute nicht.
Dabei haben die Horbans beinahe noch Glück, denn von vielen Verschwundenen weiß man selbst nach rund 20 Monaten seit Beginn der Invasion nicht einmal, ob sie überhaupt gefangen gehalten werden. „Es gibt keine offiziellen Informationen aus Russland“, berichtet Anastasiia Panteliieva von der Media Initiative for Human Rights. Russland habe auch kein Interesse daran, die Informationen herauszugeben. Zudem seien nicht wenige Menschen möglicherweise tot. Denn in den befreiten Gebieten der Ukraine haben Ermittler Hunderte Massengräber mit gefolterten und getöteten Zivilisten gefunden. Und es werden weiter mehr. Die Menschen werden von zu Hause gekidnappt oder an Checkpoints festgenommen und in sogenannte Filtrationslager gebracht.

Genaue Anzahl der gefangen gehaltenen ukrainischen Zivilisten unklar
Auch deshalb ist unklar, wie viele Gefangene es überhaupt sind. „Wir haben bisher 1122 ukrainische Zivilisten in russischer Gefangenschaft gezählt“, so Panteliieva. Der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Dmytro Lubinez spricht sogar von 25.000 gefangenen Zivilisten. Darin sei die Zahl der durch Russland entführten Kinder, die Diktator Wladimir Putin und seiner Menschrechtsbeauftragten Maria Lwowa-Belowa eine Anklage wegen Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eingebracht haben, noch nicht einmal einberechnet. Auch mehrere Tausend ukrainische Kriegsgefangene kommen noch hinzu. Die unterschiedlichen Zahlen lassen sich auch dadurch erklären, dass die ukrainische Regierung über deutlich mehr Informationen verfüge und die Zahlen zusammenrechne, heißt es.
Die Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk hat mit ihrer Organisation Center for Civil Liberties ebenfalls die Fälle von den von Russen gekidnappten ukrainischen Zivilisten gezählt. „In unserer gemeinsamen Initiative ‚Tribunal für Putin‘ haben wir mindestens 4000 Zivilisten gezählt, die von Russland inhaftiert wurden“, berichtet Matwijtschuk auf Anfrage des Berliner KURIER. Nicht alle Initiativen könnten alle Fälle dokumentierten, es käme auf die Kapazitäten der Organisationen an. Das größte Problem der unterschiedlichen Zahlen lasse sich jedoch vor allem auf ein Problem zurückführen. „Wir sind im Krieg. Deswegen sind die Zahlen ein Problem. Wir kennen die wirklichen Zahlen nicht“, so Matwijtschuk.
Und anders als bei Kriegsgefangenen gibt es zu den Zivilisten keine Übereinkünfte. „Das sind keine Soldaten. Das sind Lehrer, Geschäftsleute, Journalisten“, sagt Mariia Mezentseva, Leiterin der ukrainischen Delegation bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Sie selbst habe auch einen Fall eines Verschwundenen im Bekanntenkreis. „Er ist Lehrer und ging einfach nur los, um seinen Bruder zu suchen“, berichtet sie. Seit 15 Monaten sei er bereits wie vom Erdboden verschluckt.

Kampagne will Öffentlichkeit schaffen
Internationale Organisationen würden bisher kaum helfen. Meist seien es nur ukrainische Organisationen, die sich um das Schicksal der verschwundenen Zivilisten kümmern. Nicht einmal das Internationale Rote Kreuz nutze seine Möglichkeiten, die Gefangenen zu finden, bemängelt Mariia Mezentseva. Besonders verbittert klingt auch der Ex-Gefangene Mykyta Horban, wenn er berichtet, dass es in der Gefangenschaft keine Besuche des Roten Kreuzes gegeben habe. Nur einmal sei der Menschenrechtsbeauftragte des russischen Parlaments zu ihnen gekommen. „Da haben die Wachen uns vorher gewarnt, dass wir ihm bloß nichts erklären sollen“, berichtet er.
Für die ehemalige Grünen-Europaabgeordnete Rebecca Harms sind die Fälle der verschwundenen Zivilisten schwierig. „Es ist eine Frage der Balance zwischen großer Öffentlichkeit und stiller Diplomatie“, sagt sie. Doch die Stille habe bisher nicht geholfen. Zudem berichten frühere Gefangene, das Öffentlichkeit mitunter auch eine Hilfe sei. „Sprecht über uns, dann gibt es weniger Schläge“, habe einer zu Maryna Hovorukhina einmal gesagt. Unter anderem deshalb habe man nun Postkarten gedruckt, die sich auch deutsche Bürger bestellen oder herunterladen und an die russische Botschaft in Berlin schicken können, und erzeuge so mehr Öffentlichkeit für die Verschwundenen. Hovorukhina, die die Initiative mitorganisiert und selbst aus der Ukraine nach Berlin geflohen ist, verspricht sich davon einiges. „Ich habe hier in Deutschland viele Werte gesehen. Jetzt muss die deutsche Gesellschaft auch ihre führende Rolle darin übernehmen.“
Die Organisatoren haben die Kampagne auf der Website campaigns.commonsense.zone zusammengefasst. Dort können Interessierte mehr Informationen und eine E-Mail-Vorlage zur Unterstützung herunterladen. Zudem rufen die Initiatoren dazu auf, den Hashtag #StimmeDerGefangenenUkrainer zu verwenden, um die Geschichten entführter Zivilisten bekannter zu machen. ■