Als die Schlacht von Ilowajsk vor zehn Jahren, Anfang September 2014, endgültig endete, säumte eine Spur zerstörter Fahrzeuge die Straßen, die eigentlich als humanitärer Korridor gedacht waren. „Am 3. September zählte ich auf einer sechzehn Meilen langen Strecke vom Dorf Nowokateriniwka zur Stadt Ilowajsk die Überreste von achtundsechzig Militärfahrzeugen, Panzern, gepanzerten Truppentransportern, Pick-ups, Bussen und Lastwagen“, schrieb der britische Journalist Tim Judah in einem Beitrag für die New York Review of Books.
In den Tagen zuvor waren dort Hunderte ukrainische Soldaten getötet worden. Nicht etwa in einem Gefecht, sondern bei einem Ausbruchsversuch. Denn die Ukrainer hatten einen Fehler begangen: Sie hatten sich auf Zusagen des russischen Präsidenten Wladimir Putin verlassen. Der hatte in der Nacht zum 29. August 2014 an die sogenannten Separatisten appelliert und gefordert, den ukrainischen Soldaten einen humanitären Korridor zu öffnen. Damit diese zu ihren „Müttern, Ehefrauen und Kindern“ zurückkehren und medizinische Hilfe erhalten könnten, auch um, wie er sagte, „sinnlose Verluste“ zu vermeiden.

Massaker an ukrainischen Truppen in Ilowajsk
Doch als die Ukrainer aus dem Kessel abzogen, eröffneten die russischen Einheiten das Feuer auf die Konvois. Dutzende Fahrzeuge wurden in Stücke geschossen. Wer entkam, hatte pures Glück. Die dramatischen Tage im Kessel von Ilowajsk wurden dabei eher zufällig durch ein Kamerateam der ARD dokumentiert. Verantwortlich war der damalige Leiter des Studios Moskau, Udo Lielischkies - obwohl er durch einen weiteren Zufall gar nicht dabei war. „Die Idee war für einen Weltspiegel-Beitrag ein ukrainisches Freiwilligenbataillon zu begleiten“, berichtet Lielischkies dem Berliner KURIER.
Doch während des Drehs erreichte den ARD-Mann die Nachricht, dass die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko in Kiew besuchen werde. „Da musste ich als Studioleiter hin“, sagte er.
ARD-Kamerateam steckt mit Soldaten fest
Da für den Film über die Freiwilligen jedoch noch nicht genug Material im Kasten war, sollte das ukrainische Kamerateam bleiben. „Die ARD ist kein Front-TV-Sender. Die Crew sollte nur einen Checkpoint drehen, 10 bis 15 Kilometer von der Front“, so Lielischkies. Doch am nächsten Morgen kam der Befehl für die Einheit, einen neuen Checkpoint zu errichten. Das Kamerateam fuhr im Bus der ukrainischen Armee mit - obwohl der ARD-Mann es ihnen untersagt hatte. „Unterwegs kriegte der Kommandeur dieses Bataillons einen neuen Befehl: Ihr baut keinen Checkpoint, sondern ihr fahrt nach Ilowajsk rein und haltet dort ein Eisenbahndepot“, berichtet er. Die Crew konnte nicht mehr abspringen, denn sie hatten kein eigenes Fahrzeug.
Ilowajsk, eine Kleinstadt südlich von Donezk, war zuvor nur teilweise von ukrainischen Truppen erobert worden. „Bis Mitte August waren die ukrainischen Truppen im Aufwind“, erklärt Jakob Hauter dem KURIER. Hauter hat ein Buch über Russlands Krieg im Donbas geschrieben. Die Ukraine war über den Süden der Region Donezk vorgerückt und hatte versucht, die Verbindungsstraße zwischen Donezk und Luhansk zu unterbrechen - den beiden wichtigsten Städten in den von russischen Kämpfern besetzten Gebieten.

Reguläre russische Einheiten verstärken die Kämpfer im Donbas
Doch wegen der drohenden Niederlage der damals auch in deutschen Medien gerne als prorussische Separatisten bezeichneten, aber von Russland kontrollierten Kämpfer, schickte Moskau ab Mitte August verstärkt reguläre russische Truppen in den Donbas. „In der Umgebung von Ilowajsk spielten die Separatisten fast keine Rolle", sagt Hauter. “Das waren fast ausschließlich reguläre russische Armeeeinheiten." So wurden unter anderem russische Panzer dort entdeckt, über die die ukrainische Armee gar nicht verfügte. Denn Russlands Regierung log immer wieder die internationale Gemeinschaft an, dass die prorussischen Kämpfer lediglich Waffen und Fahrzeuge der ukrainischen Armee erbeutet hätten. “Auch der Einsatz regulärer russischer Soldaten ist sehr gut belegt“, so Hauter.
Während ARD-Studioleiter Udo Lielischkies in Kiew über das Merkel-Poroschenko-Treffen berichten musste, saß dessen Kamerateam im Kessel von Ilowajsk mit den ukrainischen Soldaten fest, eingeschlossen von russischen Verbänden. „Die Crewmitglieder riefen jeweils ihre Eltern und mich an. Nur einmal pro Nacht, eine Minute und ich fragte dann: ‚Wie geht's euch? Was habt ihr für Pläne? Seht ihr eine Chance da rauszukommen?‘“, so Lielischkies. Mehrere Versuche der Crew, aus dem Kessel zu gelangen, scheiterten. „Wie dramatisch das war, habe ich erst danach beim Sichten der Aufnahmen gesehen.“
Panzerglas rettet Fahrer das Leben
Denn wie in der Dokumentation des WDR später auch zu sehen ist, kann das Kamerateam mit dem Kleinbus eines Kommandeurs mitfahren. Auch dieser wurde beschossen. Eine Kugel schlug direkt in die Scheibe an der Fahrerseite ein. Zum Glück war sie aus Panzerglas. Durch drei Belagerungsringe musste die Crew, bis sie sicheres Gebiet erreichte.
Handyvideos von Soldaten zeigen, dass viele ukrainische Einheiten weniger Glück hatten. Sie wurden unablässig von russischer Artillerie beschossen. Dutzende Fahrzeuge wurden zerstört. Offiziell spricht die Ukraine von 368 getöteten und 18 vermissten Soldaten. Zudem sollen 400 verwundet und 300 gefangen genommen worden sein. Die Kriegsgefangenen wurden dann unter erneuter Verletzung des Kriegsvölkerrechts zum Teil auf den Straßen vorgeführt und schwer misshandelt.
Westen hat aus Ilowajsk kaum etwas gelernt
Auch diese Bilder trugen zum Bild der Schlacht von Ilowajsk als Schmach bei und dazu, dass die Ukrainer keinen russischen Versprechungen mehr trauen. Der entstandene Beitrag wurde im ARD-Weltspiegel und als Langfassung später auch in Die Story beim WDR gesendet. Auf Youtube ist er bis heute zu sehen.
Der Westen hingegen habe nicht die richtigen Lehren aus Ilowajsk gezogen. „Putin hat damals gesehen, mit was er ohne eine Reaktion des Westens durchkommt“, sagt Buch-Autor Jakob Hauter. Denn damals habe man eine Konfrontation mit Russland gescheut. „Hätte man der Ukraine auch öffentlich geglaubt, hätte man handeln müssen“, vermutet er. Wer heute einen Waffenstillstand fordere, der solle sich auch mit Russlands Agieren 2014 auseinandersetzen. „Das ist ein starkes Argument gegen einen Waffenstillstand ohne umfassende Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Denn Deeskalation, Verhandlungen und Kompromisse ohne nennenswerte Militärhilfen und Abschreckung Russlands hat man damals versucht. Im Jahr 2022 hat man gesehen, dass es nicht funktioniert hat.“