Mit schweren Bomben

Charkiw: Russland will Millionenstadt in Ukraine unbewohnbar machen!

Charkiw liegt nur knapp 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt und steht täglich unter russischem Beschuss. Russland ist die Stadt ein Dorn im Auge.

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Experten suchen in Charkiw nach Fragmenten einer Gleitbombe, die auf den genauen Typ hinweist. Die Stadt wird immer häufiger mit den Bomben angegriffen.
Experten suchen in Charkiw nach Fragmenten einer Gleitbombe, die auf den genauen Typ hinweist. Die Stadt wird immer häufiger mit den Bomben angegriffen.Vyacheslav Madiyevskyy/Imago

Sie war bis 2022 die zweitgrößte Stadt der Ukraine, mittlerweile ist Charkiw nur noch ein Schatten seiner selbst – doch Russland will sie komplett auslöschen. Die Millionenstadt in der Ostukraine nahe der Grenze mit Russland steht täglich unter schwerem Beschuss. Dabei kommt auch eine neue brutale Waffe zum Einsatz, gegen die die Ukraine sich kaum verteidigen kann.

Erst vergangenen Mittwoch hatte Russland Charkiw mit Dutzenden Raketen und Drohnen angegriffen und es dabei besonders auf die Energie- und Wärmeversorgung abgesehen. So wurde das Fernwärmekraftwerk der Stadt schwer beschädigt. Laut Angaben der lokalen Behörden könnte eine Reparatur ähnlich lange dauern und so viel kosten wie ein Neubau. Auch fast alle Umspannwerke und Transformatorenstationen in der Stadt wurden angegriffen und beschädigt. Mehrere Menschen wurden getötet.

Charkiw wird täglich bombardiert

Seitdem geht es im Akkord weiter mit den Angriffen. „Die Stadt wird täglich bombardiert, manchmal sogar mehrmals an einem einzigen Tag“, berichtet Kate Bohuslavska, die weiterhin in der Stadt lebt gegenüber dem KURIER. Auch greife Russland nun gezielt Gasverteilersysteme in Charkiw an. Immer wieder gebe es Stromausfälle für bis zu sechs Stunden am Stück, das Mobilfunknetz funktioniere ebenfalls nicht durchgängig. 

Russland setzt für die Angriffe auf die Großstadt nun auch immer häufiger Gleitbomben ein. Die FAB500- und FAB15000-Bomben verfügen über 500 oder 1500 Kilogramm Sprengstoff und haben damit erhebliche Sprengkraft. „Sie werden von Flugzeugen einige Kilometer hinter der Front abgeworfen, die außerhalb der Reichweiten der ukrainischen Luftverteidigung operieren“, erklärt Verteidigungsexperte Nico Lange. Die Bomben sind mit Flügeln ausgestattet und werden per Satellitennavigation in ihre Ziele gesteuert.

Keine Vorwarnzeit bei schweren Bomben

Für die Bewohner der Stadt sind die Bomben extrem gefährlich, denn es gibt praktisch keine Vorwarnzeit. „Von der russischen Region Belgorod aus abgefeuerte Raketen treffen in Sekundenschnelle ein, zu schnell für eine rechtzeitige Erkennung“, berichtet Kate Bohuslavka. Oft höre man Explosionen einfach ohne Vorwarnung.

Immerhin sei aber die Solidarität unter den Menschen groß. „Lokale Unternehmen unterstützen die Bevölkerung, indem sie ihre Generatoren zur Verfügung stellen, damit die Bürger ihre Geräte aufladen und W-LAN nutzen können“, berichtet Kate Bohuslavska. Auch die Bewohner würden sich untereinander viel helfen, es gebe eine große Solidarität. Und auch die U-Bahn der Stadt funktioniere wieder. „Straßenbahnen und Trolleybusse sind aber weiterhin außer Betrieb.“

Russischer Abgeordneter will Charkiw unbewohnbar machen

Dennoch zehrt das Bombardement der einst so quirligen und beliebten ukrainischen Metropole durch Russland an den Nerven der Bewohner. Besonders die Stromausfälle würden das Leben der arbeitenden Menschen behindern. „Wir tun, was wir können, aber für viele Menschen, mich eingeschlossen, ist die Notwendigkeit eines Stromanschlusses für die Arbeit entscheidend“, sagte Kate Bohuslavska. „Bei mehreren Gelegenheiten musste ich die Nacht am PC durcharbeiten, weil ich nur so etwas erledigen konnte.“

In Russland unterdessen fabulierte ein Abgeordneter des russischen Parlaments zur besten Sendezeit darüber, Charkiw auszulöschen und alle Menschen aus der Stadt zu vertreiben. „Sie müssen in ihre Schranken gewiesen werden“, so der Duma-Abgeordnete Andrej Lugowoj. „Charkiw muss vom Strom abgeschnitten werden so dass es unbewohnbar wird. Damit diese 800.000 Leute, die da noch sind, in ihre Autos steigen mit ihren Säcken und nach Westen fahren.“ Lugowoj sitzt für eine der Parteien aus der Scheinopposition in der Duma. Die britische Staatsanwaltschaft beschuldigt ihn, am Mord an dem russischen Ex-Spion Alexander Litwinenko beteiligt gewesen zu sein.

Dass sich an der schwierigen Situation der Charkiwer schnell etwas ändern wird, ist unwahrscheinlich. „Die Ukraine muss die modernen Luftverteidigungssysteme in Kyjiw und im ganzen Land verwenden, um Zivilisten zu schützen. Dadurch gibt es in Frontnähe keine solchen Systeme“, so Verteidigungsexperte Nico Lange. Der Westen habe einfach zu wenige System geliefert, um das ganze Land schützen zu können.

Charkiwer wünschen sich mehr Hilfe aus dem Westen und Freiheit

Dabei müsse die Bundesregierung bei der Unterstützung zur Verteidigung der Ukraine endlich einen Zahn zulegen. „Deutschland muss mehr Patriot und Iris-T-Systeme liefern und diese Systeme und die Munition dafür viel schneller produzieren“, meint Lange. „Wir produzieren und liefern zu wenig und zu langsam.“ Auch der Kauf von F-16 Kampfjets aus anderen Ländern könne helfen. 

In Charkiw schaut man deshalb umso verständnisloser nach Westen. Neben den spärlichen Nachlieferungen von Flugabwehrwaffen ruft besonders das vielfach mit westlichen Waffenlieferungen verbundene Verbot, diese Waffen nicht gegen Ziele in Russland einzusetzen, in Charkiw Kopfschütteln aus. „Da unsere Streitkräfte keine Zeit haben, die ankommenden Bomben und Raketen rechtzeitig zu entdecken, ist die einzige Lösung die Ausschaltung von Raketenwerfern und Startrampen auf russischem Gebiet“, sagt die Charkiwerin Kate Bohuslavska. Nur so könnten sie und ihre Familie endlich wieder ruhiger in ihrer Heimatstadt leben.