Der Hamburger Stephan Orth hat schon mehrere Bücher zu Couchsurfing in verschiedenen Ländern geschrieben. Über Couchsurfing.com schlief er auf dem Sofa von Gastgebern in verschiedenen Ländern und schrieb über diese Begegnungen. Unter anderem besuchte er für die Bücher den Iran, Russland, China und Saudi-Arabien. Nun hat er mit„ Couchsurfing in der Ukraine“ ein neues Buch vorgelegt. Im Interview mit dem Berliner KURIER berichtet er von dem Projekt.
Herr Orth, wie kommt man auf die Idee, in ein Land zu reisen, was sich gerade im Krieg befindet?
Für mich hatte das zunächst private Gründe. Meine Freundin Julia wohnt in Kiew. Wir führen quasi eine Kriegsfernbeziehung. Daher bin ich seit Mai 2022 häufig in der Ukraine gewesen – für insgesamt mehr als acht Monate. Die Erlebnisse dort gingen mir sehr nah, und gleichzeitig stellte ich fest, dass in Deutschland das Interesse an Russlands Krieg gegen die Ukraine nachließ. Deshalb beschloss ich Anfang 2023, ein Buch über den Alltag im Krieg zu schreiben.

Zu Gast auf der Couch in einer Frontstadt in der Ukraine
Sie haben ja bereits Bücher über das Couchsurfing in mehreren Ländern geschrieben. Warum haben Sie das auch in der Ukraine gemacht?
Zunächst hab ich lange überlegt, ob das falsch oder pietätlos ist. Schließlich schläft man über das Onlineportal Couchsurfing.com bei Menschen gratis und bittet um Gastfreundlichkeit. Ich fragte mich, ob die Menschen nicht wirklich andere Probleme haben, als einen ungekämmten Backpacker aus dem privilegierten Deutschland bei sich aufzunehmen. Dann habe ich einfach Mitglieder des Netzwerks gefragt, was sie davon halten, und alle meinten: Mach das! Einer schrieb: Die Deutschen haben eine Million Ukrainer aufgenommen, da können wir doch auch mal einen Deutschen aufnehmen!
Was war denn ihre extremste Couch auf der Reise?
Ich war in Kostjantyniwka im Donbas. Das war damals rund 20 Kilometer von der Front weg. Da hörte man die Gefechte schon sehr deutlich. Um 21 Uhr begann die Sperrstunde, kurz danach rollte ein ukrainischer Panzer am Haus vorbei. Mein Gastgeber war ein 57-jähriger Immobilieninvestor. Die Zeit mit ihm war sehr bewegend. Der besitzt in der Stadt noch ein Haus und eine kleine Wohnung. Zuvor hatte er in anderen Orten viele wertvolle Immobilien, die aber entweder jetzt in den von Russland besetzten Gebieten liegen oder die zerstört wurden. Er will dort nicht weg, trotz der täglichen Gefahr. Sein letztes Haus ist alles, was ihm geblieben ist.

Positive Lebenseinstellung trotz widrigster Umstände
Was hat Sie in der Ukraine am meisten beeindruckt?
Wie widerstandsfähig die Leute sind. Und wie sie sich selbst mit den härtesten Ausnahmesituationen arrangieren. In Lyman besuchte ich eine 85-jährige Rentnerin, die ihre Wohnung durch einen Raketentreffer der Russen verloren hatte. Nun lebte sie im eigenen Keller, hatte dort sogar überwintert, ohne Strom und Heizung. Ihre positive Lebenseinstellung war unglaublich, sie war überzeugt, dass am Ende alles gut werden würde, und sie sagte in Richtung der Russen: Wenn ihr uns das Leben zerstören wollt, machen wir einfach trotzdem weiter.
In der Ukraine gibt es ja derzeit sicher nicht so viele Besucher. Wie haben denn die einfachen Menschen reagiert, wenn Sie bemerkt haben, dass Sie durch das Land reisen?
Wildfremde Menschen haben mir oft für das gedankt, was Deutschland alles tut und liefert. Auch wenn viele bedauern, dass manches zu lange dauert. Aber sie sehen schon, was für eine Entwicklung Deutschland durchgemacht hat, von 5000 Helmen hin zum wichtigsten Geberland Europas. Ich bin überall sehr freundlich empfangen worden. Es gab nur eine unschöne Situation. Da war ich im Donbass unterwegs, und ein Fotograf begleitete mich. Er wollte ein Bild von einem Raketenblindgänger machen. Da schrie uns eine Frau an, dass wir nur kämen, um sensationelle News zu verbreiten und damit Geld zu machen. Den Leuten vor Ort würde das nicht helfen. Ganz unrecht hatte sie nicht, denn nur weil Journalisten über etwas berichten, kommt dort nicht automatisch Hilfe an. Wir haben natürlich auf das Foto verzichtet. Wenn ich dagegen als einfacher Mann mit Rucksack allein unterwegs war, habe ich keine Feindseligkeit gespürt.

Treffen mit den Menschen auf Augenhöhe
War es nicht auch seltsam, dort in diesem Kriegsgebiet als Tourist unterwegs zu sein?
Nun, ich glaube, „Tourist“ ist der falsche Ausdruck, es war von Anfang an eine Recherchereise und ging nicht um Vergnügen oder Sehenswürdigkeiten. Doch man ist als Besucher aus dem Ausland natürlich privilegiert. Ich kann jederzeit ausreisen, während alle wehrpflichtigen ukrainischen Männer das Land nicht verlassen dürfen und jederzeit zum Wehrdienst eingezogen werden können. Aber dadurch, dass man beim Couchsurfing bei den Leuten lebt, hat man einen ganz anderen Zugang, als wenn man im Hotel schlafen würde. Man trifft die Menschen auf Augenhöhe, auf einer freundschaftlichen Ebene. Spätestens nach zwei oder drei Tagen bin ich mittendrin in ihrem Alltag. Und manchmal sitzt man schon am ersten Tag bei einem russischen Raketenangriff zusammen im Korridor.
Sie haben in den Danksagungen geschrieben, dass sie auch einige Gastgeber ausgespart haben. Warum?
Ich war insgesamt rund acht Monate im Land unterwegs, ein solches Buch ist immer eine Selektion aus dem Gesamtmaterial. Drei meiner Gastgeber kommen in der finalen Fassung nicht vor. Das waren super nette Leute. Aber mitunter ähneln sich die Geschichten, und ich wollte im Buch möglichst viele verschiedene Facetten wiedergeben – auch um das Spektrum im Land zu zeigen. Herausgelassen habe ich auch manche Details über besonders schreckliche Dinge und manche Sachen, die zu privat sind. Man will niemanden bloßstellen.

Wunderschönes Land, in dem sich Reisen lohnen werden
Viele Menschen in Deutschland wissen weder etwas über die Menschen noch über die Ukraine selbst. Hatten Sie auch Gelegenheit, einige Sehenswürdigkeiten im Land kennenzulernen?
Landschaftlich besonders eindrucksvoll fand ich die Karpaten. Dort hat mich ein Couchsurfing-Paar auf eine dreitägige Bergtour mitgenommen. Endlich mal keine Luftalarm-Sirenen, endlich unberührte Natur. Beim Aufstehen hatten wir vom Zelt einen wunderbaren Blick auf die Howerla, den höchsten Berg der Ukraine. Es war April, überall blühten die Krokusse. Aber selbst dort wurden wir bald wieder an den Krieg erinnert, wenn auch an einen anderen: In den Bergen befinden sich noch viele Schützengräben aus dem Ersten Weltkrieg. An einem Baum hing eine Plakette, die an zwei Wanderer erinnerte, die 2021 gestorben sind, weil einer von ihnen auf eine mehr als hundert Jahre alte Mine getreten ist. Da fragt man sich, wie lange es noch Probleme geben wird mit den Gebieten, die jetzt in der Ukraine vermint wurden.
Nachdem Sie das Land so intensiv kennengelernt haben, würden Sie eine Reise dahin empfehlen?
Generell würde ich keine Reise in ein Land im Krieg empfehlen, weiterhin warnt das Auswärtige Amt davor. Aber sobald Frieden herrscht, sollte man die Ukraine unbedingt besuchen. Vielleicht wird dann Wiederaufbau-Tourismus ein großes Thema werden. Ich war bei einer Initiative, die sich „Repair together“ nennt. Dort kommen junge Leute zusammen und bauen Häuser in den von den Russen zerstörten Regionen wieder auf. Auch Ausländer sind sehr willkommen. Ansonsten hat die Ukraine ein unfassbares touristisches Potenzial mit vielen wunderschönen Orten. Neben den Karpaten gibt es Odessa mit der Schwarzmeerküste. Tscherniwzi hat eine hübsche Altstadt und ein interessantes literarisches Erbe, dort lebten die Dichter Rose Ausländer und Paul Celan. Und Lwiw, das frühere österreichische Lemberg, ist eine der schönsten Städte Europas. Trotzdem: Am eindrucksvollsten fand ich auf meinen Reisen die Menschen, die dem Krieg trotzen und durchhalten und einfach immer weitermachen.
Das Buch „Couchsurfing in der Ukraine. Meine Reise durch ein Land im Krieg“ hat 256 Seiten und ist im Malik-Verlag erschienen. Es kostet 18 Euro.