Am Donnerstag herrschte Chaos im Thüringer Landtag. Der von der AfD stammende Alterspräsident sabotierte die erste Sitzung des Parlaments, das sich konstituieren wollte. Die Debatte zwischen den Rechtspopulisten und den anderen Parteien zog sich über Stunden. Vor den Politikwissenschaftler Andreas Umland ist das Verhalten der AfD typisch für rechte Parteien. Er sieht gleich mehrere Parallelen und hat eine Empfehlung für die anderen demokratischen Kräfte.
Berliner Kurier: Herr Umland, Sie sind Politikwissenschaftler und stammen aus Thüringen. Wenn Sie sich anschauen, was da am Donnerstag im Landtag in Erfurt passiert ist, macht Ihnen das Sorgen?
Andreas Umland: Das macht insofern Sorgen, weil es hier darum geht, durch Tricks mit der Geschäftsordnung einen Landtagspräsidenten zu installieren, der keine demokratische Legitimation hätte. Das ist auch insofern brisant, weil die AfD in Thüringen vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Ein AfD-Landtagspräsident hätte das Recht, diese Beobachtung einzusehen - und das, obwohl er selbst Objekt solcher Beobachtung ist. Womöglich ist das auch der Grund, warum die AfD jetzt versucht, ihren Mann in dieser Funktion zu installieren.
Könnte das BSW der AfD zur Mehrheit verhelfen?
Denken Sie, das könnte Erfolg haben?
Ich glaube nicht, dass es Erfolg haben kann, denn dafür gibt es keine Mehrheit. Die AfD müsste sich für die Abstimmung einen Partner besorgen. Und wenn es dann eine Mehrheit mit einem Partner für die Wahl eines AfD-Landtagspräsidenten gäbe, würde das funktionieren. Es sieht aber so aus, als ob die AfD das gar nicht versucht. Wahrscheinlich wird das auch nicht möglich sein, weil sie stigmatisiert und isoliert bleibt.

Denken Sie, das Bündnis Sahra Wagenknecht könnte der AfD zu einer Mehrheit verhelfen?
Dieses Bündnis Sahra Wagenknecht ist aus der Linken hervorgegangen und obwohl es eine Parallelität der außenpolitischen Ansichten gibt, gerade was den Russisch-Ukrainischen Krieg betrifft oder das Verhältnis zur NATO, überwiegen doch im Ganzen die Unterschiede zwischen den beiden Parteien. Sie vertreten verschiedene Pole im politischen Spektrum, deswegen würde ich auch erwarten, dass das BSW die AfD nicht unterstützt. Sonst könnten beiden Parteien die Wähler davonlaufen.
Wenn man sich diese Szenen im Landtag so anschaut, erinnert Sie als Osteuropaexperte das an etwas, das Sie in der Vergangenheit schon mal gesehen haben?
In den postsowjetischen Ländern geht es oft noch viel heißer her, und es wird auch teilweise geprügelt. Dennoch ist das meiner Ansicht nach nicht so klar zu vergleichen, weil das relativ neue Länder sind, wo es noch um ganz prinzipielle Fragen geht. Was sind die Grenzen des Landes? Was ist die Verfassung des Landes? Das sind Dinge, die für Ostdeutschland schon vor 30 Jahren quasi über Nacht gelöst worden sind - durch den Beitritt zur Bundesrepublik. Da ähneln die parlamentarischen Tumulte in den postsowjetischen Ländern eher denen in der Weimarer Republik.

Gedanke an Viktor Orban drängt sich auf
Haben solche Ausfälle System?
Die AfD ist eine rechtsradikale Partei, die ein gespaltenes Verhältnis zur Demokratie hat und in diesem Fall das Mehrheitsprinzip aussetzen möchte. Sie sieht gar kein Problem darin, die Geschäftsordnung dafür zu nutzen, um ihren Vertreter da zu installieren - ohne Mehrheit für ihn. Das ist so eine Art Machtübernahme im Kleinen. So verhalten sich eben rechtsradikale Parteien. Sie versuchen, die Demokratie auszuhöhlen, und hier geht das gleich los mit der ersten Landtagssitzung. Ich muss da an Viktor Orban denken, der als Ministerpräsident in Ungarn die Demokratie ja mehr oder weniger abgeschafft hat. Bei Orban geht das natürlich sehr viel weiter. Der hebelt das gesamte Umfeld der Wahlen, das heißt den Rechtsstaat, die Zivilgesellschaft, die Medien und so weiter, aus.
Lernt die AfD vom Beispiel Ungarns oder anderer Parteien und hat sie möglicherweise eine Strategie entwickelt, die sich an der Situation des jeweiligen Bundeslandes ausrichtet?
Das ungarische Beispiel spielt hier insofern eine Rolle, als Ungarn zeigt, dass in einem EU- und NATO-Land eine rechtsradikale Partei de facto die Macht übernehmen kann. Das ermutigt Versuche, wie wir sie gerade im Thüringer Landtag erleben: Wenn man nur hartnäckig genug ist, kann man die demokratischen Institutionen aushebeln. Und natürlich schauen die Parteien auch, welche Diskurse aus anderen Ländern anwendbar auf Deutschland sind, was von dem, was Orban in Ungarn oder Marine Le Pen in Frankreich machen, auch für Deutschland gilt. Was kann man auf der Straße versuchen? Was kann man in den Institutionen anrichten? Was kann man in den Medien machen? Auch gibt es einen ideologischen Austausch, in dem Argumente und Visionen übertragen werden.
Steckt da auch das Ziel dahinter, das Parlament in den Augen der Bürger zu delegitimieren?
Das könnte ein Effekt sein. Die Nazis haben auch so argumentiert, dass man die Quasselbude Reichstag nicht braucht, weil da nur Unordnung herrscht. Stattdessen soll ein Führer das alles übernehmen, die Verantwortung haben und Entscheidungen treffen.
„Vielleicht hat Russland einen indirekten Einfluss“
Es kommt ja immer wieder der Vorwurf, dass sowohl die AfD als auch das BSW von Moskau aus gesteuert werden. Halten Sie das für möglich?
Vielleicht hat Russland einen indirekten Einfluss. In der Ukraine waren es nicht die Rechtsradikalen, sondern die prorussischen Parteien, die versucht haben, die junge ukrainische Demokratie zu unterwandern. Aber ich glaube nicht, dass das, was da in Thüringen passiert ist, aus Moskau gesteuert wird. Dafür braucht die AfD keine Anleitung von außen.
Warum stößt denn die AfD aber gerade im Osten auf so viel Zustimmung?
Meine These ist, dass unter dem Mantel des angeblich antifaschistischen Staates DDR autoritäre Denk- und Verhaltensmuster aus der deutschen Vorkriegszeit bis heute konserviert wurden - in so einer Art Herbarium der deutschen politischen Vorkriegskultur. Das äußert sich jetzt in der Unterstützung für die AfD. Der Osten hat eine lange Diktaturperiode hinter sich, und damit ist nicht nur die DDR gemeint.
Im Falle der Weimarer Republik ist unsere erste Demokratie krachend gescheitert, und das nicht nur wegen der Wirtschaftskrise und weil Deutschland im Versailler Vertrag ungerecht behandelt wurde. Sondern es gab auch eine deutsche kulturelle Affinität zum Autoritarismus. In Westdeutschland ist er durch die Vergangenheitsbewältigung und vor allem durch die 1968er-Revolution verringert worden. Wir in Ostdeutschland hatten nie so eine antiautoritäre Revolution. Wir hatten zwar auch unsere Revolution 1989/1990. Die war aber eher gegen den Ostblock, gegen die Mauer …
… und für die D-Mark.
Und natürlich auch gegen die SED-Herrschaft. Aber ich habe meine Zweifel, dass die DDR, wenn sie weiter existiert hätte, wirklich eine Demokratie geworden wäre. Was wir jetzt in Thüringen sehen, scheint das ostdeutsche Demokratiedefizit zu illustrieren.

Klare Handlungsempfehlung für demokratische Parteien
Wenn wir uns jetzt das Agieren der AfD in Thüringen angucken, was kann man da von Zukunft erwarten?
Ich glaube, dass dieses antidemokratische Vorgehen für die AfD auch riskant ist. Auf derart totale Konfrontation zu setzen, wird für die AfD zum Problem werden. Ich könnte mir vorstellen, dass sich einige Wähler, die aus Protest für die AfD gestimmt haben, nun umschauen. Einige, gerade die radikaleren AfD-Wähler, werden das Vorgehen im Landtag zwar begrüßen, aber viele AfD-Wähler sind nicht radikal ideologisch eingestellt. Wenn sich die AfD allerdings damit durchsetzen würde, wäre das ein Erfolg für die Partei. Abgesehen davon wollen sie mit ihrer Sabotage womöglich auch die Demokraten zu Fehlern provozieren, um zitierfähige und scheinbar undemokratische Aussagen von den anderen Parteien zu erhalten.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU hat das Ganze als „Machtergreifung“ bezeichnet. Da kann man schon fragen, ob man gleich so weit gehen muss, das mit den Nazis zu vergleichen.
Das ist natürlich ein belasteter Begriff, der einen bestimmten historischen Kontext in Deutschland hat. Aber es geht hier natürlich schon um eine kleine Machtergreifung im Parlamentspräsidium. Die AfD könnte ja auch den Landtagspräsidenten bekommen, indem sie dafür einen Partner bei der Abstimmung findet. Stattdessen versucht sie, die Geschäftsordnung zu instrumentalisieren, um das Mehrheitsprinzip auszusetzen. Das geht natürlich nicht.
Mal sehen, was das Thüringer Verfassungsgericht dazu sagt. Davon mal abgesehen, was raten Sie den anderen Parteien, wie sie sich gegen solche Angriffe auf die Demokratie wehren können?
Zusammenhalten! Das BSW hat zwar auch ein gespaltenes Verhältnis zum bundesdeutschen politischen System. Aber solange sie hier mitmachen, ist das gut für die Bundesrepublik. Wenn alle anderen Parteien zusammenhalten, kann man die AfD selbst in Thüringen weiterhin isoliert halten.