Kein anderer Frauenname weckt wohl so viele Erinnerungen wie dieser: Schlug man in der DDR die Zeitschrift mit dem klingenden Namen „Sibylle“ auf, taucht man ein bisschen in ein anderes Land ein. Man war dann in einem Land, in dem Frauen mondän waren, schicke Kleidung trugen, die in den Geschäften in der DDR garantiert nicht zu haben war. Da standen sie auf den Fotos mutig und frei auf Bahnhöfen, vor Industriebauten und Lagerhallen oder auf den Straßen Berlins und regten die Leserinnen zum Träumen an.
Französisch muteten die künstlerisch anspruchsvollen Fotos von Roger Melis, Günter Rössler oder Sibylle Bergmann an. Die „Sibylle“, das war Stoff zum Träumen und Schnittmuster zum Nachschneidern.
Einzigartiges Magazin in der DDR
Eine Zeitschrift, in der neben Mode auch Kunst, Literatur, Reisen und Theater gefeiert wurden, das war bis dahin einzigartig in der DDR. Mit ihren Porträts, Essays und Interviews mit interessanten Persönlichkeiten von hohem journalistischen Niveau war die „Sibylle“ ein Fenster zur Welt.
„Ich verspreche Ihnen, dass ich meine Augen überall haben werde – in Prag und Florenz, in Warschau und Wien, in Moskau und New York, in Peking und London – und immer wieder in Paris. Natürlich weiß ich sehr gut, dass Sie in der Vergangenheit ein wenig, na, sagen wir: stiefmütterlich behandelt worden sind. Da gab es nicht immer das zu kaufen, was Sie wollten, und was es zu kaufen gab, wollten Sie nicht …“, schreibt die Namensgeberin des Heftes in der ersten Ausgabe 1956 an ihre Leserinnen.
Doch nach nur sechs Jahren wurde Sibylle Boden-Gerstner, die Frau hinter der Vogue des Ostens, abgesägt. Ihr Stil sei zu französisch, zu verspielt. Geblieben ist ihre Handschrift trotzdem. Schon allein deshalb, weil sie der Zeitschrift ihren Namen schenkte.

Für 2,50 Mark konnte man mit der „Sibylle“ sechsmal im Jahr Außergewöhnliches erwarten. Die Auflage von 200.000 Exemplaren war bei Weitem nicht genug. Das Magazin war schnell vergriffen und schwer zu ergattern. Es war üblich, das Blatt an Freundinnen, Kolleginnen und Bekannte weiterzureichen, samt der begehrten Schnittmuster.
Zuerst herausgegeben vom Modeinstitut Berlin und später vom „Verlag für die Frau“ war das Journal dauerhaft ein Renner in der DDR. Auch wenn es immer wieder Ausgaben der „Sibylle“ gibt, die wegen eines provokanten Umgangs mit der Blue Jeans oder zu kurzen Miniröcken nicht in den Druck gehen dürfen.
Die Wiedervereinigung überlebte die „Sibylle“ nicht, trotz aller Bemühungen führten finanzielle Gründe 1994 zum Aus der Zeitschrift.
Das war die Frau, die Sibylle ihren Namen schenkte
Ihre Gründerin, Sibylle Boden-Gerstner, hätte in ihrem Leben genug Stoff für gleich mehrere Bücher gehabt. Sibylle Boden stammt aus einer deutsch-jüdischen Familie. Ihr Vater war Pelzwarenfabrikant und Versandhändler, der später in einem Zuchthaus der Nationalsozialisten starb, ihre Mutter Geschäftsfrau.
Ab 1936 studierte Sibylle Boden an der damaligen Textil- und Modeschule Berlin. Darauf folgte ein Studium der Malerei und Illustration an der Berliner Kunstakademie. Als die Nazis es in Berlin unerträglich machten, setzt Sibylle Boden ihr Malerei-Studium in Wien fort. Mit ihrem späteren Mann Karl-Heinz Gerstner geht sie als Illegale nach Paris, wo sie als Modejournalistin arbeitet. Gemeinsam überstehen sie den Krieg und kehren im Sommer 1944 nach Berlin zurück, um das Ende der Naziherrschaft zu erleben. Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten entschließen sich Sibylle und ihr Mann, nach Ost-Berlin zu gehen. Erst nach Zeuthen, später dann nach Kleinmachnow. Sibylle arbeitet zunächst als freie Kostümbildnerin bei der Defa.

Im Juli 1956 gründet sie schließlich die Modezeitschrift „Sibylle“. In einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ erinnert sich die Tochter, Daniela Dahn, an die legendäre DDR-Modezeitschrift. Die Idee und der Beschluss zur Gründung sei vom Frauenbeauftragten vom ZK gekommen. Die DDR sollte der westdeutschen Zeitschrift „Constanze“ etwas entgegensetzen können.
Die „Sibylle“ sollte anders sein: „Nicht nur von Männern gemacht, nicht so viel Reklame und Boulevard, dafür ein anspruchsvoller Feuilleton-Teil.“
Warum war Ihre Mutter als Gründerin nur stellvertretende Chefredakteurin?, wird die Tochter gefragt. „Ihre Bezeichnung wechselte. Meist war sie künstlerische Leiterin. Das übergeordnete Ministerium für Leichtindustrie hatte einen Gruppen-Chefredakteur eingesetzt, der war für sieben Zeitungen zuständig, also auch für die Traktoren-Zeitung.“
„Von Mode hatte er null Ahnung, vom Schreiben auch nicht, aber das wusste er und hat sich rausgehalten. Meine Mutter hat allein die Konzeption entwickelt und am Anfang hat ihr niemand reingeredet. Alles war sehr improvisiert, sie hat selbst Modelle und Stoffmuster gezeichnet. Solange die Mauer noch nicht stand, war die Sibylle ziemlich international, meine Mutter war in Paris, in Warschau, in Florenz oder Moskau zu Modeschauen, brachte Fotos mit, auch Cocktailkleider und so. Die standen dann neben den etwas spärlichen HO-Modellen. Und dann kam die Zeit, wo sie gemobbt wurde und man befand: Das ist nicht das, was die werktätige DDR-Frau braucht.“
Luxus in der DDR – nicht erwünscht
Anspruchsvolle Bilder von Luxus im Arbeiter- und Bauernstaat, das ging dann doch zu weit.
Nach nur sechs Jahren wurde Sibylle Boden-Gerstner, die später unter dem Pseudonym Sibylle Muthesius ein erfolgreiches Buch veröffentlichte, von ihren Aufgaben entlassen. Nach ihrer Karriere bei der „Sibylle“ arbeitete die Namensgeberin als freischaffende Kostümbildnerin bei Defa und DFF. Ein großer Erfolg wurde ihr Buch „Flucht in die Wolken“ über den Freitod ihrer hochbegabten Tochter. Am 25. Dezember 2016 verstarb Sibylle Boden-Gerstner im Alter von 96 Jahren in Kleinmachnow bei Berlin. ■