Als letzte Kurznachricht auf Seite 12 der Berliner Zeitung ist am 7. Juli 1984 unter der Schlagzeile „Gewaltverbrecher wurde festgenommen“ zu lesen: „Durch aktive Mithilfe der Bevölkerung konnte am 8. Juli 1984 Mario S. durch die Deutsche Volkspolizei festgenommen werden. Er steht in dringendem Verdacht, im September 1983 im Kreis Oranienburg Tötungsverbrechen an zwei Kindern begangen zu haben. Ein Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet und Haftbefehl erlassen. Die Deutsche Volkspolizei dankt allen Bürgern, die durch ihr umsichtiges Handeln zur Festnahme des Täters beigetragen haben.“ Kein Wort davon, dass es sich beim Täter Mario S. um einen Feldwebel der NVA gehandelt hat.
Der Fall des fünffachen Mörders Mario S. kann als einer der brisantesten in der DDR gelten. Eine ARD-Dokumentation der Reihe Crime Time, abrufbar auch in der Mediathek, erzählt von den Geschehnissen im Sommer 1983.
Ein heißer Sommer in Neubrandenburg. Im Jahr 1983 gerät die Bevölkerung im Norden von Berlin und in Neubrandenburg in Aufruhr. Zwei Kinder werden in Oranienburg bei Berlin getötet, zuvor gab es in Neubrandenburg innerhalb von nur zwei Wochen zwei Mordfälle. Die Opfer sind ein neunjähriger Junge und ein 22-jähriger Mann.
Ein Serienmörder ist offenbar unterwegs und er plant weitere Morde. Besonders perfide: Der Täter, ein Feldwebel der NVA, protokollierte seine Taten und Pläne akribisch in einem Tagebuch, wie später herauskommt.
Auf der Suche nach Opfern
Der 16. Juli 1983 ist ein Sonnabend, ein angenehmer Sommertag. Mario S. hat mittags frei und fährt von seiner Dienststelle bei der NVA in Cölpin mit dem Bus nach Neubrandenburg. Dort sucht er den Kulturpark auf, wo er bereits zuvor immer wieder in der Nähe des Ziegengeheges nach potenziellen Opfern, kleinen Jungs oder jungen Männern, die ihn sexuell erregen, Ausschau hielt.
Auf einer Bank entdeckt er einen jungen, betrunkenen Mann. Mario S. hat sein erstes Opfer gefunden. In seinem Tagebuch hält er fest: „Nun kämpfte ich mit mir, ob ich es wagen sollte oder nicht. Ich hatte ziemlichen Bammel dabei. Es war immerhin das erste Mal.“ Mario S. traktiert sein Opfer mit Messerstichen in den Hals, den Bauch und den Rücken. Die Leiche schleift er in ein Gebüsch und lässt sie dort liegen.
Nur zehn Tage nach dem ersten Tötungsdelikt, da ist die Leiche seines ersten Opfers noch nicht entdeckt, schlägt Mario S. erneut zu. Gegen Mittag des 26. Juli 1983, einem heißen Sommertag, fährt er in seiner freien Zeit nach Neubrandenburg. In seinem Jeansbeutel steckt eine Paketschnur, seine Kamera, ein kleines Notizbuch, in dem er die persönlichen Daten des Opfers eintragen will.
Akribische Notizen über seine Opfer
An einer Brücke des Gätenbachs in Neubrandenburg bezieht Mario S. Stellung. Von dort kann er das Treiben am Strand des Tollensesees beobachten. Es herrscht viel Betrieb. Auch der neunjährige Dirk ist zum Baden gegangen, die Familie will noch am selben Tag in den Urlaub fahren, um vier Uhr soll er wieder zu Hause sein. Die Eltern sind in großer Sorge, als der Sohn zur verabredeten Zeit nicht nach Hause kommt.

Auf seinem Weg muss Dirk Mario S. begenet sein, der packt den Jungen, der nur mit Badehose und Sandalen bekleidet ist und zerrt ihn in ein Gebüsch. Er fragt das Kind nach seinem Namen, nach Geschwistern, schreibt alles in ein Notizbuch. Dann macht er Fotos, misshandelt den Jungen zu Tode. Es ist gegen 19 Uhr, als sich Mario S. zur Bushaltestelle begibt, um nach Cölpin zurückzufahren. Am nächsten Morgen entdeckt Dirks Vater seinen Sohn, er ist tot.
In der dreiteiligen ARD-Dokumentation„ Crime Time“ wird aus den Aufzeichnungen des Täters der genaue Tathergang dieser und weiterer Taten zitiert. Nur schwer erträglich sind Passagen, die aus der Ich-Perspektive beschreiben, wie der Täter das vor Angst klopfende Herz des Kindes spürt. Wie er zögert und dann aus Lustgewinn mordet.
Ermittler kommen dem Serienmörder nicht auf die Spur
Mario S. fährt Tage später erneut los. Er fährt nach Strasburg, und streift bis in die Nacht durch die Stadt auf der Suche nach einem neuen geeigneten Opfer. Gegen 23.30 Uhr folgt er einem jungen Mann, der stark alkoholisiert nach Hause torkelt. Mario S. beobachtet, wie der Betrunkene ins Bett geht. Er folgt ihm mit einer Leiter durchs geöffnete Fenster.
Als der Mann erwacht, sticht Mario S. zu. Das Opfer schreit und weckt dadurch seine Eltern, der Mörder flieht. Sein Messer lässt er zurück. Der Mann überlebt den Angriff. In seinem Tagebuch notiert er: „Süßer Bengel, voll todestauglich.“
Zwei tote Kinder im Briesewald
Am 23. September 1983 bricht Mario S. von seiner Dienststelle auf, nimmt einen Zug, nach Oranienburg. Auf der Suche nach weiteren Opfern fährt er nach Lehnitz und Borgsdorf. Dort trifft er gegen 18.15 Uhr auf zwei neun und elf Jahre alte Brüder, die in einem Waldstück Pilze sammeln. Auch ihr Schicksal ist besiegelt, als er mit ihnen ins Gespräch kommt. Die Leichen der beiden ermordeten Brüder werden einen Tag später entdeckt. Dass die Morde mit denen in Neubrandenburg zusammenhängen, glaubt man in Oranienburg nicht. Denn in Neubrandenburg wurde zwischenzeitlich fälschlicherweise ein anderer verhaftet. Ein Saufkumpan des ersten Opfers gesteht die am Tötung am Ziegengehege. Ein fataler Fehler in der Ermittlung.

Bis zum 7. Februar 1984 kann der Mörder seine Lust zügeln, dann zieht er wieder los. Wieder in Neubrandenburg will er diesmal ein Kind in einen Keller locken. Im Neubaugebiet Datzeberg wird er fündig. Ein sechsjähriger Junge geht von einer Kaufhalle allein nach Hause. Mario S. folgt ihm. Noch am selben Abend wird der Junge tot im Keller gefunden.
Festnahme nur durch Zufall am Kiessee in Schildow
Dass man den Serientäter schließlich festnehmen kann, liegt an einem Zufall.
Am Kiessee in Schildow nördlich von Berlin Pankow hatte sich Mario S. ebenfalls öfter nach Opfern umgesehen. Einmal hatte er bereits einen Jungen festgehalten, musste ihn aber wieder laufen lassen. Die Kinder erzählten ihren Eltern von dem Vorfall.
Als Mario S. im Juli 1984 wieder am Kiessee auftaucht und nach dem Jungen Ausschau hält, den er festgehalten hatte, begegnet er dessen älterem Bruder und einem Freund. Der Junge erkennt ihn sofort, die beiden rennen los und informieren ihre Väter.

Sie sind es schließlich, die Mario S. in einem Gebüsch finden und der Polizei übergeben. Der Feldwebel gesteht. In seiner Wohnung in Prenzlauer Berg offenbaren seine Aufzeichnungen in einem Ordner „Geheime Privatsache“, die Details der Mordtaten. Und Details zu geplanten Taten und Beobachtungen potenzieller Opfer. Kinder in Berlin wurden in der Straßenbahn beabachtet, junge Männer nach Hause verfolgt. 20 weitere geplante Taten sind so dokumentiert.
Nach 40 Jahren in Gefängnisverwahrung ist der Triebtäter seit Mai 2024 nicht mehr in Haft. Der Vollzug wurde wegen seines schlechten Gesundheitszustandes ausgesetzt. Die Staatsanwaltschaft Berlin kam zu der Einschätzung, dass aufgrund seines Gesundheitszustandes eine Gefährdung von Menschen eher unwahrscheinlich ist. Sollte es ihm besser gehen, so heißt es in der Doku, muss er zurück ins Gefängnis. ■