Schicksalsdiagnose

Wettlauf gegen das Vergessen: Louisa (3) aus Potsdam leidet an Kinderdemenz

Nur noch Monate, dann könnte eine Gentherapie aus den USA Hilfe für Louisa bringen. Doch die Zulassung verzögert sich. Ein Wettlauf gegen die Zeit.

Author - Stefanie Hildebrandt
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Louisa aus Potsdam leidet am seltenen Sanfilippo-Syndrom – auch bekannt als Kinderdemenz.
Louisa aus Potsdam leidet am seltenen Sanfilippo-Syndrom – auch bekannt als Kinderdemenz.Markus Wächter/Berliner Kurier

Ein Mädchen in Potsdam lacht und singt lauthals „Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne“. Das Mädchen isst Eis und seine Augen leuchten. „Schreiben“, sagt die Kleine fröhlich, als ich ihre Eltern treffe, um ihre Geschichte aufzuschreiben und mopst sich den Block. Als der Fotograf sie nach ihrem Namen fragt, antwortet sie wie selbstverständlich: „Louisa“. Doch dass Louisa ihren Namen nennt, ist leider nicht selbstverständlich.

Sprachlos nach der Diagnose

Louisa ist so krank, dass sie, wenn nicht ein Wunder geschieht, immer mehr ihrer Fähigkeiten verlieren wird, Pflege benötigt, und irgendwann an den Folgen der seltenen Erbkrankheit, dem Sanfilippo-Syndrom, stirbt. Kinderdemenz, so lautet die Diagnose, die im August dieses Jahres für die kleine Potsdamer Familie alles verändert. „Ich musste weinen“, erzählt Louisas Papa, Lennart Sieweke. Stundenlang hätten er und seine Verlobte Aurélie sprachlos nebeneinander gesessen.

Lennart Sieweke und Aurélie Signat wissen: Eines Tages wird Louisa ihren Namen nicht mehr sagen können, wenn sie nicht von einer neuartigen Gentherapie profitiert, die sich derzeit in den USA in Zulassung befindet. Doch es muss schnell gehen, soll die Therapie noch nützen: In den kommenden Wochen und Monaten steht für Louisa und ihre Eltern einfach alles auf dem Spiel.

Was ist Kinderdemenz?

Das Sanfilippo-Syndrom, oder Mukopolysaccharidose Typ III, greift vor allem das zentrale Nervensystem an. Aufgrund eines Gendefekts fehlt im Körper der Betroffenen ein Verdauungsenzym. Über die Zeit sammeln sich in den Gehirnzellen und auch in allen anderen Körperzellen immer mehr Reststoffe an, die der Körper nicht abbauen kann. Das Gehirn wird zunehmend geschädigt. Aber auch Herz, Lunge, Leber, Milz und das Skelettsystem sind betroffen.

Je mehr Zeit vergeht, desto ausgeprägter sind die Symptome. Bisher gab es keine Heilung für die Erkrankung. In den USA allerdings steht eine Gentherapie, die sich in Studien als wirksam erwies, kurz vor der Zulassung. Das Tückische: Die Zeit spielt gegen die Betroffenen, sie spielt gegen Louisa.

Louisa ist ein aufgewecktes Mädchen mit unbändigem Bewegungsdrang, auch das ist ein Symptom der Erkrankung.
Louisa ist ein aufgewecktes Mädchen mit unbändigem Bewegungsdrang, auch das ist ein Symptom der Erkrankung.Markus Wächter/Berliner Kurier

Bei der Geburt völlig unauffällig

Die Betroffenen wirken, wie auch Louisa, bei ihrer Geburt völlig normal. Wer keinen konkreten Verdacht auf die Erbkrankheit hat, lässt sein Kind nicht testen. Oft wird die Krankheit daher erst im Kleinkindalter oder Grundschulalter bemerkt, wenn der schleichende Abbau von Fähigkeiten schon begonnen hat.

Auch in Louisas Fall wurde die Diagnose erst gestellt, als sich mehrere Indizien verdichteten. Nur wer genau hinsieht, bemerkt Louisas volle Lippen, ihre kräftige Statur. Dass sie ein lebhaftes, zuweilen hyperaktives Kind ist, ordnen Ärzte zunächst als normal ein.

„Mit anderthalb Jahren ist Louisa wegen häufiger Probleme mit den Ohren in Behandlung gewesen“, erzählen die Eltern. Später fällt einer Erzieherin in der Kita auf, dass Louisa die Beine nicht so weit spreizen kann wie andere Kinder. Die Orthopädin rät, die Schilddrüse des Mädchens kontrollieren zu lassen. Bei einer weiteren OP am Ohr fallen ihre verhältnismäßig großen Hände auf. Louisa schläft sehr schlecht und ist hyperaktiv. Die Eltern spüren, es ist etwas mit Louisa.

Lennart Sieweke und Aurélie Signat wollen nichts unversucht lassen, um ihrer Tochter Louisa zu helfen.
Lennart Sieweke und Aurélie Signat wollen nichts unversucht lassen, um ihrer Tochter Louisa zu helfen.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Die unklaren Hinweise mehrerer Ärzte lassen schließlich alle Alarmglocken läuten. Eine neue Kinderärztin rät zu einem Gentest. Aurélie Signat weiß heute, dass diese Ärztin schon beim ersten Termin, an dem sie Louisa drei Stunden lang genau untersuchte, einen Verdacht auf Kinderdemenz hatte. Als Lennart Sieweke und Aurélie Signat endlich Gewissheit haben, ist das ein Schock. Tränen, Trauer und die Frage, was aus ihrer Louisa wird, bestimmen ihre Tage.

Louisa hat den seltenen Gendefekt, weil Mutter und Vater beide ihr ein defektes Gen vererbt haben. Sie trugen es in sich, ohne selber zu erkranken. Louisas kleine Schwester Léonie ist gesund. Warum Louisa? „Diese Frage führt in eine Sackgasse“, sagen Lennart und Aurélie. Sie wollen positiv bleiben und jede Möglichkeit für Louisa ausschöpfen.

Gentherapie weckt Hoffnungen

„Am Tag, an dem wir die Diagnose erhielten, sollte in den USA eine neue Gentherapie zugelassen werden“, sagt Lennart Sieweke. Ein Funken Hoffnung keimt auf. Noch macht Louisa Fortschritte, entwickelt sich, anstatt ihre Fähigkeiten einzubüßen. Sie könnte eines von etwa 3000 bis 5000 Kindern weltweit sein, die von der neuen Therapie der US-amerikanischen Firma Ultragenyx, die 2026 auf den Markt kommen könnte, profitieren.

„Der Ansatz von Ultragenyx weckt sowohl in der Ärzteschaft als auch bei betroffenen Familien enorme Hoffnung“, sagt Ärztin Nicole Muschol, Oberärztin am Universitätsklinikum Eppendorf gegenüber der MAZ. Wie gut die Therapie einem einzelnen Patienten helfen könne, ließe sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Dennoch: Sie beschäftige sich seit 25 Jahren mit dem Sanfilippo-Syndrom und es sei das erste Mal, dass ein Ansatz derartige Erfolgsaussichten habe.

Jeder Tag zählt für Louisa

Doch wird die vielversprechende Therapie für Louisa rechtzeitig kommen? Was wird in ein paar Monaten sein? „Wir sind an einem Scheidepunkt“, sagt Lennart Sieweke. Die Eltern sind Experten für die Erkrankung geworden. Sie wissen, dass diese sehr individuell verläuft. Doch irgendwann ab dem dritten oder vierten Lebensjahr beginnt meist die mittlere Phase der Kinderdemenz. Die Entwicklung der Kinder stagniert ab diesem Zeitpunkt.

Die dritte Phase geht mit dem Verlust von Sprachfähigkeiten und motorischen Fähigkeiten einher. Die Therapie muss vorher beginnen, soll sie wirksam die Folgen des Gendefekts bekämpfen. „Wir genießen jeden Moment mit Louisa“, sagen ihre Eltern und freuen sich über jeden noch so winzigen Fortschritt in ihrer Entwicklung.

Louisa geht in die Kita, wo sie den Tag über eine eins zu eins Betreuung hat. Das Mädchen hat Freunde, sie liebt es zu klettern, zu toben und zu schaukeln. „Louisa ist furchtlos, eine Draufgängerin“, sagt Aurélie Signat über ihre Tochter, der sie nichts mehr wünscht, als ein selbstbestimmtes Leben. Die Chance darauf gibt es.

Louisa braucht ständig Betreuung, ihr Abenteuergeist kennt kaum Grenzen.
Louisa braucht ständig Betreuung, ihr Abenteuergeist kennt kaum Grenzen.Markus Wächter/Berliner Kurier

Hoffnung für Patienten mit Kinderdemenz

Bei der US-Gentherapie wird ein gesundes Gen in das Genom einer Zielzelle transportiert. Träger ist ein inaktiviertes Virus, das die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann. „Studien haben gezeigt, dass Kinder mit der Therapie in der Lage waren, weiter dazuzulernen, wogegen ohne Behandlung die Degeneration fortschritt“, sagt Lennart Sieweke. Entscheidend sei, dass die Krankheit noch nicht zu weit fortgeschritten ist.

„Die Krankheit kommt schubweise“, erklärt Lennart Sieweke. Dass es aufgrund von Verzögerungen infolge von Donald Trumps Gesundheitspolitik in den USA noch immer keine Zulassung für die Gentherapie gibt, reibt Louisas Eltern auf. Frühstens in sieben Monaten könnte das rettende Medikament, das in Form einer einzigen Spritze verabreicht wird, für Louisa zur Verfügung stehen. Das Schlimme sei, zu warten, sagt Lennart Sieweke. „Zu wissen, es gibt diese Therapie, sie wurde angewandt und war wirksam.“

Gäbe es eine andere Regierung in den USA, wäre das Verfahren womöglich schon abgeschlossen. Donald Trump hat mit seiner Gesundheitspolitik für große Verwerfungen im amerikanischen Gesundheitssystem gesorgt. So aber tickt die Uhr für Louisa.

Spenden für Louisa und andere Betroffene

Doch neben der ausstehenden Zulassung gibt es noch weitere Hürden. Die Behandlung einer so seltenen Krankheit ist teuer. Anders als bei Krebserkrankungen forschen nur sehr wenige Firmen an Therapien. Die Gentherapie für Louisa würde 2 bis 3 Millionen Euro kosten. Lennart und seine Verlobte Aurélie haben daher eine Spendenaktion auf dem Portal GoFundMe gestartet. 600.000 Euro wollen sie unter dem Stichwort „Hoffnung für Louisa“ zusammenbekommen. Innerhalb kurzer Zeit spendeten Menschen schon über 70.000 Euro.

„Das sind 20 Prozent der Gesamtsumme, damit kann man Kredite aufnehmen“, sagen Lennart und Aurélie. Es ist schlicht keine Option für Louisas Eltern, dass das Leben und die Zukunft ihrer Tochter an fehlendem Geld scheitert könnten. Gleichzeitig sind sich Lennart und Aurélie bewusst, dass sie im deutschen Gesundheitssystem immer noch privilegiert sind. „Wir haben bisher noch keinen Cent für die Behandlungen für Louisa zahlen müssen.“ Sollte Louisa die Therapie nicht bekommen können, wollen sie das Geld für andere Betroffene spenden.

Während die Eltern erzählen, spielt Louisa auf dem Sofa. Sie springt und beäugt neugierig das Kamerastativ des Fotografen. Louisa will noch nach draußen gehen, sich bewegen. Sie will es mit beiden Händen packen, dieses wunderbare Leben.