Wenn Kinder zustechen

Nach Messer-Attacke! Experte sicher: „Niemand wird als Täter geboren“

Nach dem blutigen Messer-Angriff an einer Grundschule in Spandau fragen sich viele: Woher kommt die Gewaltbereitschaft unter Kindern und Jugendlichen?

Author - Florian Thalmann
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Auch Kinder und Jugendliche können zu Gewalttätern werden. Experte Jens Mollenhauer gibt Anti-Gewalt-Trainings an Schulen und Kindergärten - und weiß, was zur Eskalation führen kann.
Auch Kinder und Jugendliche können zu Gewalttätern werden. Experte Jens Mollenhauer gibt Anti-Gewalt-Trainings an Schulen und Kindergärten - und weiß, was zur Eskalation führen kann.Gerhard Leber/imago, Georg Wendt/picture alliance/dpa (Montage: BK)

Zwei Fälle von Messer-Gewalt unter Kindern und Jugendlichen an nur einem Tag: Die blutigen Angriffe an einer Grundschule in Berlin und in der Innenstadt von Remscheid schocken ganz Deutschland. Wenn 13-Jährige zur Klinge greifen, wirft das viele Fragen auf. Warum haben Kinder in ihrem Alltag ein Messer in der Tasche? Woher kommt die Bereitschaft zur Gewalt? Und: Was kann man tun, um solche Taten zu verhindern? Der ehemalige Polizist Jens Mollenhauer (61) aus Amelinghausen (Niedersachsen) führt seit 40 Jahren Anti-Gewalt-Trainings an Schulen durch. Er erzählte dem KURIER, was er dort erlebt – und was getan werden muss.

In der Turnhalle einer Grundschule im Berliner Bezirk Spandau sticht ein Schüler (13) auf seinen Mitschüler (12) ein. Das Opfer muss notoperiert werden. Der mutmaßliche Täter flieht vom Tatort, wird einen Tag später gefasst. Am selben Nachmittag kommt es auch in Remscheid (NRW) zu einem blutigen Angriff. Ein Junge (11) zieht bei einer verabredeten Prügelei ein Messer, sticht einem 13-Jährigen zweimal ins Bein. Dann flieht er vom Tatort. Es sind Taten, für die es keine Worte gibt. Taten, die verstören. Und am Ende bleibt die große Frage nach dem Warum.

Gewalt in Familien: Eltern hauen ihre Kinder und schreien sie an

Eine Frage, mit der sich auch Jens Mollenhauer beschäftigt. Er ist an Schulen unterwegs und gibt Anti-Gewalt-Trainings. Für Taten wie die in Berlin gibt es für ihn verschiedene Gründe. „Viele Kinder und Jugendliche führen heute ein Leben unter Stress“, sagt er. Zum einen gebe es viel Gewalt in Familien. „Eltern, die ihre Kinder hauen und anschreien.“ Viel zu wenig wird darauf geachtet, womit sich Kinder umgeben, was sie spielen. Und welche Kompetenzen sie entwickeln. „Viele Kinder können nicht richtig streiten, weil es die Eltern schon nicht können.“

Ein weiterer Faktor ist das Internet: Was früher die sogenannten „Killerspiele“ waren, sind heute Videoportale wie TikTok. Für Mollenhauer seien das „kleine Brandstifter“, die für die Kinder zum Katalysator werden können. Erst seien da die Wut und die Trauer, dann entwickeln sich Gefühle, die der Experte als „Feuer im Bauch“ bezeichnet. „Und wenn so ein Kind dann ein Prügel-Video sieht …“ Täglich hat Mollenhauer mit Kindern zu tun, die ab der ersten Klasse unkontrolliert im Netz unterwegs sind. Die Videos und Nachrichten konsumieren, oder Cybermobbing ausgesetzt sind. Mollenhauer weiter: „Es gibt keine Online-Polizei, an die man sich wenden kann.“

Ich bin ehrenamtlich Schiedsrichter. Schauen Sie sich mal an, wie sich die Eltern am Spielfeldrand benehmen.

Jens Mollenhauer

Hinzu kommt: Oft bekommen Kinder Verhaltensweisen von ihren Eltern und der Gesellschaft vorgelebt, die verheerende Folgen haben können. „Ich bin ehrenamtlich Schiedsrichter. Schauen Sie sich mal an, wie sich die Eltern am Spielfeldrand benehmen“, antwortet er auf die Frage, warum Kinder in dem Alter eigentlich Messer bei sich tragen. „Die wollen gewinnen. Sie nehmen das nicht mit, um zu töten. Sondern zur Selbstverteidigung, aus Angst, Ärger oder Wut. Und leider kriegt man in Deutschland überall Messer, dafür muss man nicht einmal in den Waffenladen.“

Gewalt sei für Kinder häufig ein legitimes Mittel geworden. In der Welt der Erwachsenen wird es ihnen schließlich vorgelebt. Auch kulturelle Unterschiede durch Migration wirken sich aus – und es gibt Kinder, die im rechten Spektrum unterwegs seien. „Wir haben ja schon Jugendliche, die Anschläge planen“, sagt er.

Viele Kinder sind auch heute noch häuslicher Gewalt ausgesetzt. Dadurch kann Wut entstehen, die sich später entlädt - und zu brutalen Angriffen wie an der Berliner Grundschule führt.
Viele Kinder sind auch heute noch häuslicher Gewalt ausgesetzt. Dadurch kann Wut entstehen, die sich später entlädt - und zu brutalen Angriffen wie an der Berliner Grundschule führt.Petra Schneider/imago

Die Abwärtsspirale, die zur Gewalt führt, kennt Mollenhauer selbst genau. Als Kind bekam er von seiner Mutter erzählt, sein Vater sei tot. „In der Schule hatte ich außerdem einen Lehrer, der mich mit Kreide und seinem Schlüsselbund bewarf.“ Als er erfuhr, dass sein Vater noch lebte, lief er von zu Hause weg und machte sich auf die Suche nach seinem Papa. Mollenhauer geriet auf die schiefe Bahn. In seiner Jugend lieferte er sich einige Auseinandersetzungen mit der Polizei. „Ich hatte Feuer im Bauch. Die Polizisten wurden zu Gegnern. Wenn man so etwas erlebt, braucht es jemanden, der einen da rausholt.“

Gewalt unter Kindern: In Deutschland dauert es zu lange, bis etwas passiert

Aber: Wer hilft Kindern mit „Wut im Bauch“? Ab 14 Jahren sind Kinder in Deutschland zwar strafmündig und können strafrechtlich belangt werden. Doch viel wichtiger sei es, schon vorab Grenzen zu setzen und die Kinder richtig zu erziehen. Aber genau darin liegt die Herausforderung. „Wie bringen wir ein Kind wieder auf den richtigen Weg?“, fragt Mollenhauer. „Ich habe schon oft mit Kindern zu tun gehabt, die zu Intensivtätern wurden. Sie begingen immer wieder Straftaten, doch nichts passierte.“ Man müsse sich früher um solche Kinder kümmern. Denn niemand wird als Täter geboren.

Jens Mollenhauer hat auch das Buch „Herzgewalt. Warum wir kriminelle Jugendliche nicht alleinlassen dürfen“ geschrieben. Er war früher bei der Polizei, gibt heute unter anderem Anti-Gewalt-Trainings an Schulen.
Jens Mollenhauer hat auch das Buch „Herzgewalt. Warum wir kriminelle Jugendliche nicht alleinlassen dürfen“ geschrieben. Er war früher bei der Polizei, gibt heute unter anderem Anti-Gewalt-Trainings an Schulen.Georg Wendt/picture alliance/dpa

Messer-Angriff an Grundschule: Gewalt beginnt schon im Kindergartenalter

Oft beginnt die Gewalt schon im Kindergartenalter. Deshalb geht der Experte mit seinen Präventionsangeboten auch in Kitas und betreut dort die Kleinsten und ihre Erzieherinnen. Mollenhauer: „Ich habe im Kindergarten eine Situation erlebt, wo ein Kind am Boden lag und ein anderes Kind auf es eintrat. Die Erzieherin war hilflos, stand daneben, traute sich aber nicht, einzugreifen.“ Er fordert: Lehrerinnen und Erzieher müssen sich fortbilden und eine bessere Kommunikation schaffen. Das Problem: Der Datenschutz mache es zum Beispiel unmöglich, dass beim Übergang eines Kindes vom Kindergarten in die Schule Auffälligkeiten kommuniziert und weitergegeben werden.

Wer die Schuld an Gewaltvorfällen wie in Berlin oder Remscheid trägt, lasse sich nicht genau sagen. Fakt ist aber: Es muss sich viel tun! Mollenhauer ist sich sicher, dass der Messer-Angriff in Berlin hätte verhindern können, wenn der jugendliche Täter vorher aufgefangen worden wäre. Doch dafür fehlen die Mittel. Es fließt zum Beispiel zu wenig Geld in Prävention. Und es fehle an Fachkräften. In Mollenhauers Arbeitsstadt Hamburg seien gar nicht alle vorgesehenen Stellen besetzt. „Warum wird erst eingegriffen, wenn es schon zu spät ist?“, fragt er. „Wenn man mit präventiven Angeboten zwei von sechs Kindern erreicht, hat man schon viele mögliche Opfer geschützt.“

Es brauche mehr schulische Sozialarbeit und mehr Training für gewaltfreie Kommunikation. Natürlich seien nach solchen Taten immer alle entsetzt. Doch man müsse anfangen, einzugreifen, bevor etwas passiert. „Wütend werden dürfen wir alle mal. Aber die Kinder müssen lernen, dass es andere Lösungen gibt als den Griff zum Messer.“