Modedesigner Kilian Kerner hat sich mit seinen Kollektionen schon öfter an sperrige Themen gewagt. Er prangerte Shitstorms und Hatespeech im Internet an, setzte Statements gegen den Krieg, auch das Thema Krebs brachte er auf den Laufsteg, mitten rein in die bunte Show-Welt, die so gern ernste Topics ausblendet. Mit dem Thema für seine neue Show zur Berliner Fashion Week stößt er nun in ein echtes Wespennest. Sie trägt den Titel „DDR. Die gestohlenen Kinder“.
Obwohl die derzeitige Forschung bisher keine Nachweise über systematisch vorgetäuschten Kindstod in der DDR bringen konnte, glauben Tausende Betroffene, dass der Staat in der DDR ihnen die Kinder raubte. Einzelfälle können die Forscher nicht ausschließen, heißt es. Doch zählt nicht jeder einzelne dieser Fälle?
1980er-Jahre Hochzeit der Zwangsadoptionen in der DDR
In den 1980er-Jahren erfahren Zwangsadoptionen und auch vorgetäuschte Säuglingstode in der DDR eine Hochphase. Der Staat droht nichtkonformen Eltern offen mit Kindesentzug. Menschen, die als „asozial“ gelten, Kritiker, Kranke, müssen befürchten, dass man ihnen die Kinder wegnimmt, ins Heim steckt oder regimetreuen Adoptiveltern zur Erziehung überlässt. Es gibt Fälle, in denen Kinder gegen Devisen in die BRD, nach Ungarn oder Österreich verkauft wurden.
Noch perfider ist eine andere Praxis: Müttern log man nach der Geburt vor, ihr Kind sei bei der Geburt gestorben. Wie systematisch solches Vorgehen war, wie viele Fälle es gab, keiner weiß es. Denn Forschung dazu findet bisher nur zögerlich statt. Nur wenige Bundesländer haben überhaupt die Akten dafür freigegeben.
Von der DDR geraubt: Mutter hält ihren Sohn Jahre lang für tot
Der Fall Eike, der in der RTL-Doku „Entrissen“ dokumentiert wird, wühlt besonders auf. Ein Mann, der in der DDR als Adoptivkind aufwuchs, macht sich auf die Suche nach seiner leiblichen Mutter. Die jedoch hat es schwarz auf weiß, dass er vor Jahrzehnten gestorben ist, der Fall von Eike, der seinen echten Namen abgeklebt mit einem Pflaster auf dem Impfausweis fand, und seiner Mutter Regina, die 19 Jahre lang am Grab ihres vermeintlich toten Sohnes trauerte, erschüttert tief.
Auch Kilian Kerner treibt das Thema Kindesraub und Zwangsadoption in der DDR schon seit Jahren um. Er schaut Dokus, liest über Unrecht in der DDR, das unter den Teppich gekehrt wird. Die gestohlenen Kinder aus den 1970 und 80ern, sie sind heute in etwa so alt wie er selber. Sie leben ihr Leben, haben Berufe, bringen ihre eigenen Kinder zur Schule – und wissen nichts von ihrem Schicksal. Auf der anderen Seite läuft ihren leiblichen Eltern die Zeit davon.
Zusammenarbeit mit Betroffenen
Auf der Suche nach den Kindern, die der Staat ihnen nahm, haben die Eltern nach derzeitiger Gesetzeslage keine Möglichkeiten, um wichtige Unterlagen einzusehen. „Dieses Thema muss auf den Tisch, wir müssen darüber sprechen“, sagt Kilian Kerner. Das Leid der Eltern sei manchmal gar nicht mit anzusehen, so der Designer. 7000 Betroffene haben sich in der „Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR“ zusammengeschlossen. Gegründet hat sie Andreas Laake, ein Vater, der in der DDR ebenfalls seinen Sohn verlor.

Laake und seine schwangere Frau wollen 1984 die Republik in Richtung Dänemark verlassen, um dem noch ungeborenen Kind ein besseres Leben zu ermöglichen. Die Flucht über die Ostsee in einem Schlauchboot geht schief, Laake und seine Frau werden festgenommen. Das Kind, Marco, das seine Frau während der Haft gebiert, kommt in ein Heim und wird später adoptiert. Nach der Wende lässt der Leipziger nichts unversucht, um seinen Sohn zu finden. Marco ist 29 Jahre alt, als er sich nach einem Aufruf im TV bei seinem Vater meldet.
Auch die private Facebook-Gruppe „Betroffene von DDR Zwangsadoption/Säuglingstod“ der Gemeinschaft hat mehr als 2500 Mitglieder. Auch hier werden Gesuche von Menschen, die als Kind adoptiert wurden geteilt, suchen Eltern und Geschwister nach Hinweisen auf ihre Kinder, Brüder und Schwestern.
Kinder-Gräber mit Tierknochen darin
Kilian Kerner hat sich zu dem Thema intensiv mit Andreas Laake ausgetauscht. Er erfährt, wie es Eltern verwehrt wurde, ihre angeblich bei der Geburt verstorbenen Kinder zu sehen. In vielen Fällen hieß es lediglich: „bereits beerdigt“. Gräber gibt es kaum. Manche Eltern ließen vorhandene Gräber öffnen – gefunden wurden Tierknochen oder Kleidungsstücke von Erwachsenen. Wer Zweifel äußerte, wurde als „geisteskrank“ abgestempelt.

„Fass das Thema nicht an“, sagten manche zu Kerner. Und doch richtet er mit seiner neuen Show einen Aufruf an Zeitzeugen von damals: „Brecht das Schweigen. Hört auf, ein System zu schützen, das Unheil über viele Familien brachte. Ihr könntet helfen, indem ihr darüber sprecht, was in der DDR mit diesen Kindern geschah.“
Kerner bei der Fashion Week: Das wird keine Wohlfühlshow
Über seine Show am 2. Juli in der Uber-Arena sagt er: „Es wird nicht angenehm sein, im Publikum zu sitzen. Das Gefühl während der Show darf kein angenehmes sein. Denn keiner der Betroffenen hatte es je angenehm.“
Andreas Laake spricht für die vielen Betroffenen, die endlich wissen wollen, was mir ihren Kindern geschah. „Sie wollen ihr Schicksal nicht mit ins Grab nehmen“, sagt er und fordert: „Der Umgang der DDR mit fremdplatzierten Kindern muss endlich als DDR-Unrecht anerkannt werden“, nicht um entschädigt zu werden, sondern damit Eltern endlich erfahren können: Meinem Kind geht es gut.