Seit Wochen und Monaten werden wir auf Smartphones und am Computer mit Themen befeuert, die viele Leute zunehmend nerven: Gendern! Woke! Gender-Gaga! Inmitten diesen aufgeheizten Kulturkampf melden sich Leute wie Elon Musk und Donald Trump mit gnadenlosen Statements zu Wort: Der Tesla-Milliardär erklärt seine trans Tochter Vivian Jenna Wilson für tot, der US-Präsident verbietet trans Jugendlichen jegliche medizinische Betreuung und blockiert die Ausstellung von Papieren, in denen die Person nicht klar als Mann oder Frau benannt ist. Woher kommt diese Wut, warum scheint der halbe Welt plötzlich nichts wichtiger zu sein, als in die sozialen Medien einen so merkwürdigen Satz zu brüllen: „Es gibt nur zwei Geschlechter“?
Zwei kurze Momente in der Fragerunde des ARD-Kanzlerduells am Sonntag und einen Tag später bei „Hart aber fair“ ließen aufhorchen: CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz und SPD-Kanzler Olaf Scholz zeigten unvereinbare Haltungen zu Trumps Entscheidung, künftig nur zwei Geschlechter anzuerkennen. Merz nannte dies „eine Entscheidung, die ich nachvollziehen kann“. Olaf Scholz widersprach in klaren Worten: „Ich halte das für unangemessen. Jeder Mensch soll so glücklich sein, wie er glücklich sein möchte.“ FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner, der sich in der Ampelregierung mit Scholz überworfen hatte und nun am liebsten mit Merz regieren würde, liegt in dieser Frage mit dem CDU-Mann ebenfalls über Kreuz, verteidigt das in der Ampel beschlossene Selbstbestimmungsgesetz gegen Kritik der Konservativen.
Roland Kaiser spricht Klartext: „Es gibt eben nicht nur Mann und Frau. Punkt“
Merz wiederum bekommt Zustimmung von der Berliner AfD-Politikerin Beatrix von Storch, die seit Jahren mit provokanten Aussagen über sogenannte „Genderideologie“ von sich Reden macht. In dem unversöhnlichen Streit bezieht der erfolgreiche Schlagersänger Roland Kaiser nun Position. Das bekennende SPD-Mitglied wirbt für Toleranz: „Ich war immer überzeugt, dass die Freiheit eines Menschen erst dort endet, wo die Freiheit eines anderen beginnt.“ Rechtskonservative in der Union und Rechtsextreme in der AfD wollen diese Freiheit für Menschen beschränken, die sich nicht in dem Geschlecht zuhause fühlen, das man ihnen per Geburt zugewiesen hat – üblicherweise aufgrund typischer Geschlechtsmerkmale als männlich oder weiblich. Roland Kaiser widerspricht: „Es gibt eben nicht nur Mann und Frau. Punkt“, so der gebürtige Berliner in der Süddeutschen Zeitung.
In den sozialen Medien erntet der Schlagerstar dafür viel Zustimmung, aber auch Widerspruch, auch von Menschen, die sich überhaupt nicht als rechtsextrem verstehen, sondern nicht nachvollziehen können, wie es denn etwas anderes als Männer und Frauen gibt, wo doch in aller Regel Toiletten oder Umkleiden für Männer und Frauen da sind – was soll denn daran falsch sein, dass die Welt nun mal in männlich und weiblich eingeteilt ist? Diese verunsicherten Menschen spricht Kaiser an und wirbt für Verständnis: „Menschen sind offensichtlich vielschichtiger und haben entsprechend vielschichtige Gefühle und Bedürfnisse“ – wie kann man dieser menschenfreundlichen Aussage widersprechen? Menschen sind eben keine Karnickel, die man kreuzt und züchtet.
Was ist eigentlich ein biologisches Geschlecht?
Dennoch beschäftigt man sich in der Biologie sehr intensiv mit der spannenden Frage nach dem Geschlecht. Dabei geht es unter anderem um den genetischen Code, wo das Geschlecht nicht ausschließlich in XX und XY-Chromosomen, sondern auch weiteren Geschlechtsmarkern hinterlegt ist. Entscheidenden Einfluss darauf, wie sich Hirn und Körper entwickeln, haben jedoch ebenso eine Reihe von Hormone von Oxytocin bis Testosteron, die bei Männern wie Frauen in unterschiedlichen Konzentrationen und Wechselwirkungen wirken. Dies führt bei Menschen wie Tieren dazu, dass bei Individuen Geschlechtsmerkmale stärker oder schwächer ausgeprägt sind. Bei Menschen sind über das biologische Geschlecht hinaus andere Aspekte maßgeblich: das soziale Geschlecht, Rollenerwartungen, Selbst- und Fremdwahrnehmung, das juristische Geschlecht und vieles mehr.
Kein Zweifel gibt es daran, dass es einen kleinen Teil von Menschen gibt, die in dem ihnen zugeordneten (juristischen oder sozialen) Geschlecht nicht zuhause sind. Fachmediziner und Wissenschaftler sind sich inzwischen überwiegend einig, dass Transgeschlechtlichkeit keine zu heilende Krankheit, sondern zu den Varianten im Geschlechtsspektrum gehören, die je nach Ausprägung psychologische oder körperliche Unterstützung erfordern. Eine Heilung durch eine sogenannte Konversationstherapie, wie sie immer noch im evangelikalen Milieu betrieben wird, ist inzwischen unter Strafe verboten und gilt wissenschaftlich als gefährlicher Schabernack.
Kinder, die mit ihrem Geschlecht hadern: Union pocht auf Elternrechte
Oft ist diesen Transgender bereits im Kleinkinder-Alter bewusst, dass sie Erwartungen, ein „guter Junge“ oder ein„ richtiges Mädchen“ zu sein, beim besten Willen nicht erfüllen können. Manchmal dauert dieser Prozess, sich selbst zu finden, länger, manchmal überhören Eltern Signale, denken: Das ist nur eine Phase, die sich auswächst, oder machen sich Vorwürfe: Was haben wir falsch gemacht, dass das Kind so ist?
Genau in diese Kerbe verunsicherter Eltern hauen konservative Kritiker des Selbstbestimmungsgesetzes in der CDU, darunter die CSU-Politikerin Dorothee Bär: „Viele Jugendliche fühlen sich in der Pubertät in ihrem Körper unsicher, söhnen sich dann aber in den allermeisten Fällen mit ihrem Geburtsgeschlecht aus.“ Die Annahme: Jugendliche sind verwirrte Wesen; Eltern wissen in aller Regel besser, was für das Kind gut ist.
Diese Vorstellungen sind in der Union tief verankert, Elternrechte waren schon dem Union-Vorgänger Zentrum so wichtig, dass die Konservativen diese 1949 gerne noch tiefer im Grundgesetz verankert hätten. Dort steht aber nun in Artikel 6.2. die Kompromissformel: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Zwar haben Eltern Rechte und Pflichten, die Grundrechte an sich gelten jedoch uneingeschränkt auch für Minderjährige. Damit hadern Konservative seit jeher, führen immer wieder vermeintliche Elternrechte gegen Kinderrechte ins Feld. Eltern haben vor allem sowohl die Pflicht als auch das Recht, sich um das Kindeswohl zu kümmern, das Kind aber gleichzeitig das Recht, sich frei zu entfalten.
Stimmung gegen trans Personen: Kämpft die Union wirklich für Frauenrechte? Das steht im Wahlprogramm
Klerikal-Konservative wie Dorothee Bär reden Kinderrechte klein und argumentieren mit der elterlichen „Fürsorge“, wogegen man ja grundsätzlich nichts einwenden kann. Aber was gilt, wenn es zum Konflikt kommt? Sind Eltern nicht einverstanden damit, dass ihr Kind als Jugendliche den Geschlechtseintrag beim zuständigen Standesamt abändern lassen, drohe ihnen „der Entzug des Sorgerechts“, behauptet Bär. Ein Sorgerecht, das über den Rechten des Kindes steht, halten Juristen aber für nicht vereinbar mit dem Grundgesetz – deshalb hatte die Ampelregierung in das Selbstbestimmungsgesetz nach langem Hin und Her einen Kompromiss eingebaut, der bei Kindern ab 14 Jahren die Möglichkeit vorsieht, im Falle von Konflikten ein Familiengericht einzuschalten, das notfalls auch eine Entscheidung zum Wohle des Kindes gegen den Willen der Eltern fällen kann.
Weitere Argumente haben die Hardliner in der Union von den Evangelikalen in den USA entliehen: CDU-Politikerinnen wie Mareike Lotte Wulf beschwören Gefahren für Frauen, würden trans Personen in Frauenschutzräume wie Frauenhäuser und Umkleiden eindringen. Frauenhäuser, kirchliche und karitative Organisationen haben diese Argumente unter Hinweis auf ihre tatsächlichen Erfahrungen klar zurückgewiesen: kommt tatsächlich mal eine trans Frau in ein Frauenhaus, dann als Opfer häuslicher Gewalt. So oder so gibt es zu wenig Plätze in Frauenhäusern – im Wahlprogramm setzt die Union auf markige Worte: „Wir setzen verstärkt auf die elektronische Fußfessel“ gegen Gewalttäter – nur wie Frauenhäuser besser finanziert werden, dazu findet man keine Aussage. Stattdessen im Wahlkampf polemische Parolen -zu denen gehört eben auch der Kulturkampf-Schlager: „nur zwei Geschlechter“. ■