In der DDR war er bei Freunden und Bekannten einfach nur der Genosse Erich. „Enrico“ nennt ihn bis heute der Bundesnachrichtendienst (BND). Der Deckname für ihren einzigen Top-Spion aus dem Osten, der vor 35 Jahren die Geheimnisse der DDR-Staatsführung an den Westen verriet.
Bis heute weiß man wenig über die Geschichte von Erich Hempel, der 1928 als Sohn eines Malers und einer Hausfrau in Jablonec nad Nisou (heute Tschechien) auf die Welt kam. Bereits 1946 trat er in die SED ein, war in der DDR als Musiker, später als Diplomat im DDR-Außenministerium tätig und hatte auch für die Stasi gearbeitet. Invalidenrentner war Hempel Ende der 80er-Jahre, als er bei einem Besuch in West-Berlin den westlichen Geheimdiensten seine Dienste anbot.
Nach drei Jahrzehnte langem Schweigen sprechen nun BND-Mitarbeiter erstmals über ihren Top-Spion aus der DDR. Nach und nach tauchen in Medien wie der Bild-Zeitung oder auf dem Internet-Portal der Bundeszentrale für politische Bildung Berichte über Hempel auf.
Und die BND-Leute sind voller Lobes. „Er war in dieser Phase, aber auch, wenn man es über die gesamte Zeit des Kalten Krieges hinweg betrachtet, die beste Quelle, die der BND je im politischen Apparat der DDR rekrutieren konnte“, wird ein BND-Mann zitiert.
Denn Hempel berichtet 1989 dem Westen sehr genau über den Zustand der DDR-Führung in jener Zeit, als der SED-Staat in den letzten Zügen seiner Existenz liegt. Was da hinter den Kulissen des Machtapparates geschieht, davon hat man in der Bundesrepublik bestenfalls eine kleine Ahnung. Aber man weiß nichts Genaues, bis ein ehemaliger DDR-Diplomat detailreiche Informationen liefert.

In den Berichten gibt es unterschiedliche Darstellungen über den Zeitpunkt, als Hempel mit den westlichen Geheimdienstleuten Kontakt aufnahm. Laut Bild-Zeitung soll dies Ende November 1988 gewesen sein. In einem anderen Bericht war es im Februar 1989.
Genosse Erich H.: Er wollte reinen Tisch mit der DDR machen
Auf jeden Fall meldet sich ein Mann mit Halbglatze und Brille zunächst beim West-Berliner Verfassungsschutz. Er nennt seinen Namen und erklärt, er verfüge über interne Informationen aus dem SED-Politbüro und der DDR-Regierung.
Als einstiger Diplomat, der in DDR-Botschaften auf Kuba, in Kolumbien und Argentinien gearbeitet hatte, habe er enge Kontakte zum DDR-Machtapparat – unter anderem zum DDR-Außenminister Oskar Fischer und zu Egon Krenz, dem damaligen Kronprinzen von DDR-Staatschef Erich Honecker.

Hempel erwähnt auch, dass er Aufträge für die Stasi erledigt, etwa auf jüdische Friedhöfe in Ost-Berlin herumschnüffeln soll, um Biografien der Toten zu erforschen und zu prüfen, ob man deren Namen als Decknamen für Stasi-Agenten im Ausland verwenden könnte. Er bezeichnete das als widerliche Drecksarbeit.
Warum nun der Genosse Erich die DDR an den Westen verraten will? Hempel gibt an, dass er mit dem Staatssystem nicht zufrieden sei. Trotz der Gorbatschow-Parolen nach Öffnung und Transparenz aus Moskau bleibe die DDR ein starrer Staat, der jede Reform ablehnt. Hempel wolle reinen Tisch machen. Außerdem sei er enttäuscht, dass man ihm eine dringende Herzbehandlung verwehrt.
Genosse Erich H. als Top-Spion: BND vermutete eine Falle der Stasi
Das alles klingt so gut, dass die Verfassungsschützer dem Mann aus dem Osten nicht so recht glauben wollen. Sie wittern zunächst eine Falle der Stasi.

Doch es kommt zu weiteren Treffen mit Hempel in West-Berlin. Die Gespräche finden in Hotels statt. Dorthin muss Hempel immer eine bestimmte Route durch das Europac-Center laufen. Der BND, der die ganze Sache noch im Hintergrund verfolgt, will sichergehen, dass der Mann aus dem Osten nicht von Stasi-Leuten verfolgt wird, schreibt Bild.
Der BND entschließt sich, Hempel als Quelle zu nutzen – unter einem Decknamen. Und „Enrico“ liefert. Insgesamt 15 Treffen soll es zwischen dem BND und ihrem Top-Spion bis Herbst 1989 gegeben haben.
Die Berichte, die Hempel abgibt, enthalten brisante Informationen. Etwa, dass DDR-Staatschef Honecker die Flüchtlingswelle im Sommer 1989 nicht ernst nahm und glaubte, „der Spuk geht schnell vorüber“. Wichtig werden auch solche Informationen, dass Honeckers Führungsanspruch nicht mehr von allen seinen engsten Genossen geteilt wird, was sich dann auch bewahrheitete.
Genosse Erich H.: DAS verriet er dem BND
Nach einem Treffen mit „Enrico“, offenbar kurz vor den Ereignissen im Herbst 1989, berichtete der BND in einer Aktennotiz: „Enrico lieferte eine Reihe von Erkenntnissen zu aktuellen Themen.“ Dabei ging es um die „Führungssituation im Politbüro“, Stand der Diskussionen über den Parteikurs der SED, um „Aspekte zum deutsch-deutschen Verhältnis“, um den „Gesundheitszustand von Erich Honecker“ und wie Stasi-Chef Erich Mielke auf die Ausreisesituation der DDR-Bürger in einer Geheimsitzung reagierte.

Fazit der BND-Kontaktleute über den Wert der Informationen, die Genosse Erich Hempel lieferte: Den Berichten, die unter den Decknamen „Leo I“ und „Leo II“ an Spezialabteilungen des BND gingen, „wurden wiederum überdurchschnittliche Qualität bescheinigt“, heißt es in der Akte.
Hempel lieferte auch Informationen über das nicht so gute Verhältnis zwischen Honecker und dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow. Auch diese wertvollen Erkenntnisse bewahrheiteten sich später.

Allerdings zahlte der BND kein fürstliches Gehalt an seinen Top-Spion. Insgesamt 40.000 D-Mark und einen gebrauchten Audi 80 soll er laut Berichten bekommen haben.
Genosse Erich H.: Die Stasi hatte beinah den Top-Spion enttarnt
Über den DDR-Verrat des Genossen Erich soll aber die Stasi Wind bekommen haben. Hempel geriet laut Stasi-Unterlagen bereits im März 1989 ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit. Bei ihm bestehe der „dringende Verdacht, geheimdienstliche Verbindungen zum BND zu unterhalten“. Ob Mielkes Leute wussten, dass Hempel „Enrico“ war, ist unklar.