Hunderttausende ohne Strom

Stasi-Akten enthüllen: Weihnachtsbaum-Lametta legte DDR-Kraftwerk lahm

Vom Bundesarchiv jetzt freigegebene Unterlagen enthüllen ein kurioses Kapitel der DDR-Geschichte. Die banalen Hintergründe einer Energiekrise.

Author - Michael Heun
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Ein Weihnachtsbaum sorgte im Braunkohlekraftwerk Jänschwalde für mächtig Probleme.
Ein Weihnachtsbaum sorgte im Braunkohlekraftwerk Jänschwalde für mächtig Probleme.Andreas Franke/Imago

Es klingt wie der Beginn eines schlechten Witzes, doch für die DDR-Führung war es bittere Realität: Am 7. Januar 1986 legte Lametta einen Block des Braunkohlekraftwerks Jänschwalde in Brandenburg lahm. Durch Stasi-Akten, die jetzt auf Antrag der Bild-Zeitung vom Bundesarchiv freigegeben wurden, kommt dieses kuriose Kapitel deutsch-deutscher Geschichte nun ans Licht – und zeigt, wie ein einfacher Weihnachtsbaum die Energieversorgung von Hunderttausenden Menschen ins Wanken brachte.

Ein Blackout und die Stasi ermittelt

Um 13.20 Uhr fiel der Block A 10 des Kraftwerks Jänschwalde aus. Für die nächsten knapp drei Stunden produzierte der Block, der normalerweise 500 Megawatt Strom lieferte, kein einziges Watt. Die Ursache? Ein „Erdschluss“, wie die Stasi in ihrem Bericht nüchtern festhielt. Doch das eigentliche Problem war nicht etwa ein technischer Defekt, sondern etwas völlig Banales: Weihnachtsbaum-Lametta, das auf eine der zentralen Sammelschienen gefallen war.

Die Ermittler des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gingen der Sache akribisch auf den Grund und fanden heraus, dass ein Mitarbeiter des Kraftwerks für die ungewöhnliche Störung verantwortlich war. Nach Silvester hatte er den Auftrag erhalten, einen geschmückten Weihnachtsbaum aus einem Werkstattgebäude zu entsorgen. Doch anstatt den Baum wie üblich über die Treppe nach draußen zu tragen, entschied er sich für die – vermeintlich einfachere – Variante: den Fensterwurf.

35 Meter Flug und eine katastrophale Landung

Was nach einer simplen Idee klang, erwies sich als fatal. Der Wind ergriff das lose am Baum hängende Lametta und trug es etwa 35 Meter weit, bis es schließlich auf der Sammelschiene landete, einem zentralen Bauteil des Kraftwerks. Dort verschmorte der dünne Metallfaden, was einen Kurzschluss auslöste – und den gesamten Block A 10 lahmlegte.

Die Folgen waren weitreichend. Wie aus den freigegebenen Akten hervorgeht, führte der Vorfall zu einer „komplizierten Versorgungssituation mit Elektroenergie“. Verschärft wurde die Lage durch einen gleichzeitig auftretenden Rohrschaden in einem weiteren Kraftwerksblock, der ebenfalls die Produktion einstellen musste. Insgesamt gingen dadurch 1000 Megawatt Leistung verloren – genug, um Hunderttausende Haushalte zu versorgen.

Lametta aus DDR-Produktion sorgte für einen Strom-Notstand.
Lametta aus DDR-Produktion sorgte für einen Strom-Notstand.DDR-Museum

Lametta mit sicherheitspolitischer Bedeutung

Was auf den ersten Blick wie eine amüsante Anekdote wirkt, hatte ernsthafte Konsequenzen für die DDR. Strom war knapp, und jeder Ausfall war ein Risiko für die Stabilität des Systems. Professorin Daniela Münkel, Leiterin der Forschungsabteilung im Stasi-Unterlagen-Archiv, erklärt gegenüber Bild: „Ein Ausfall eines Kraftwerks durch Lametta erscheint auf den ersten Blick als ein Witz. Da es sich um die Energieversorgung handelte, hatte es aber für die DDR eine hohe sicherheitspolitische Bedeutung.“

Die Reaktion der Staatssicherheit zeigt, wie ernst der Vorfall genommen wurde. Innerhalb kürzester Zeit verfasste die Bezirksverwaltung Cottbus einen detaillierten Bericht über das „Lametta-Gate“ und leitete diesen an die Hauptabteilung XVIII, zuständig für Wirtschaftsfragen, sowie an die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe der Stasi in Berlin weiter.

Ein bizarrer Einblick in den DDR-Alltag

Der Lametta-Blackout zeigt nicht nur die Absurditäten des DDR-Alltags, sondern auch die enorme Abhängigkeit der Planwirtschaft von funktionierender Infrastruktur. Was als harmlose Entsorgung eines Weihnachtsbaums begann, endete als energiepolitische Krise und wurde zum streng vertraulichen Fall für die Stasi.

Heute, Jahrzehnte später, wirkt die Geschichte wie ein skurriler Rückblick auf eine längst vergangene Zeit – doch sie erinnert auch daran, wie kleine Fehler manchmal große Auswirkungen haben können. O Tannenbaum, o Tannenbaum – wer hätte gedacht, dass du die Lichter eines ganzen Kraftwerks ausknipst?