Es geht fast schon hektisch zu, wenn das kleine Boot der Fahrgastreederei Lenz am Steg auf Vilm anlegt. Denn die kleine Insel vor Rügen ist ein Biosphärenreservat und eigentlich für den Besucherverkehr gesperrt. Vilm gehört dem Bundesamt für Naturschutz, das hier in der Internationalen Naturschutzakademie Seminare und Schulungen durchführt. „Dauerhaft leben nur etwas mehr als drei Dutzend Schafe auf der Insel“, berichtet Andreas Kuhfuß.
Seit 2006 führt Andreas Kuhfuß über die Insel. Der 63-Jährige stammt zwar aus Sachsen, lebt aber schon viele Jahrzehnte in der Region. Große Teile der Insel dürfen gar nicht betreten werden. Nur einige Pfade sind für Besucherführungen offen. Die werden derzeit noch von der kleinen Reederei durchgeführt, die die alleinige Erlaubnis dafür hat und jährlich 100 Fahrten auf die Insel organisieren darf. Maximal 60 Personen kommen an diesen Tagen auf das zweieinhalb Kilometer lange Eiland.

Insel Vilm als Rückzugort für die DDR-Minister: Für Familien und „Freunde“
Der Vilm, der an seiner höchsten Stelle gerade einmal knapp 38 Meter hoch ist, wird immer kleiner. Immer wieder breche an der Steilküste, am sogenannten Kochufer, etwas ab. Erst letztes Jahr hat ein Sturm im Herbst zum Verlust gleich mehrerer Meter geführt. „Wo wir damals standen, ist jetzt nichts mehr“, erklärt Andreas Kuhfuß.
Berühmtheit erlangte die kleine Insel indes als Rückzugsort der DDR-Eliten. Denn ab 1959 war der Vilm von der DDR-Führung zur exklusiven Urlaubsinsel des DDR-Ministerrates gemacht worden. Zwölf eigens abgestellte Polizisten bewachten die Mini-Insel. „Die kannten jeden Maulwurf mit Namen“, so der Gästeführer. Ihre Sommer auf der Insel verbrachten hier nicht nur der erste Vorsitzende Otto Grotewohl und der gefürchtete Stasichef Erich Mielke. Auch Erich Honecker war hier zu Besuch. „Allerdings war er nur als Gast hier“, berichtet Andreas Kuhfuß.
Denn Honecker war zwar Generalsekretär des Zentralkomitees der DDR-Staatspartei SED, Vorsitzender des Staatsrates und damit de facto der oberste Führer der DDR. Er hatte jedoch offiziell keinen Ministerposten. „Daher stand er im Gästebuch der Insel immer als Gast seiner Frau Margot Honecker“, so Kuhfuß. Die sei mit den Kindern viel häufiger im Haus 2 gewesen, als ihr Mann. „Und sie hatte einen grässlichen Geschmack“, fügt Kuhfuß an.

Ulbricht in der Region beliebter als Honecker
Ohnehin habe sich Honeckers Vorgänger durch seine Besuche im Haus 1 der Insel in der Gegend größerer Beliebtheit erfreut. „Walter Ulbricht fuhr immer mit dem Boot rüber nach Lauterbach, ging dort in die Kneipen und trank mit den Fischern. Am Ende zahlte er die Zeche. Vor lauter Küstennebel fand er dann nicht mehr zur Insel zurück“, erzählt und schmunzelt Andreas Kuhfuß. „Deswegen hatten die alle Bilder vom Ulbricht hängen, selbst als der schon gar nicht mehr Parteichef war.“
Berüchtigt ist zudem auch ein weiteres der Gästehäuser. Im Haus 6 weilte die berüchtigte DDR-Justizministerin Hilde Benjamin beinahe jeden Sommer. Benjamin wurde wegen ihrer unerbittlichen Urteile gegen Regimegegner in West-Zeitungen meist „Rote Guillotine“ oder „Blutige Hilde“ genannt. Doch die Ministerin, die auch Todesurteile aussprach, zog sich gern hierher zurück. „Hilde kam mit zwei jungen Männern und die waren bei ihr für alles verantwortlich“, sagt Kuhfuß mit einem Augenzwinkern. Zudem ging die brutale Richterin hier gern FKK baden.
Doch wie Kuhfuß dem KURIER-Reporter bei der Führung auch berichtet, kämen gar nicht mehr so viele Menschen wegen der DDR-Vergangenheit auf die Insel. „Früher haben viel mehr gefragt, wer hierherkam und mit wem. Die wollten wissen, wer welche Affären hatte“, sagt er. Er könne vor allem eines sagen: „Kostverächter waren die alle nicht.“ Mittlerweile würden die meisten Gäste aber etwas zu den Tier- und Pflanzenarten und zum Naturschutz fragen.

Natur hat den Vilm zurückerobert
Und tatsächlich gibt es darüber auch einiges zu erzählen. Denn auf der Insel gibt es mehr als 1000 Pflanzenarten. Auf der benachbarten, viel größeren Insel Rügen hingegen könne man nur etwa 600 davon finden.
Auch Tiere gibt es auf dem Vilm viele. Vor allem der mächtige Seeadler sei im Revier rund um die Insel wieder daheim. Kegelrobben schauen immer wieder vorbei. Unter anderem Maulwürfe, fünf Mausarten, Steinmarder und Baummarder, 48 Schneckenarten, viele Eidechsen und Schmetterlinge lassen sich auf dem Vilm auch finden. „Wildschweine kommen manchmal vorbei, aber dann nur als Gäste“, sagt Andreas Kuhfuß. „Die schwimmen her und wieder weg.“ Auch Probleme mit invasiven Arten gab es bereits. So habe der Mink hier ein dreiviertel Jahr gelebt. Der aus Pelztierfarmen ausgebrochene Verwandte der Marder hat auf der Insel arg gewütet. „Der hat in der Zeit sämtliche Ringelnattern hier getötet“, sagt Kuhfuß.
Die Besuchergruppe schaut immer wieder bedächtig auf die Naturdenkmäler. „Die Bäume sind faszinierend“, sagt Wolfgang Lemke (77) aus Brandenburg an der Havel. „Das sieht man so woanders nicht.“ Lemke freut es, dass man die Insel besuchen könne. „Man sieht aber auch, dass die DDR-Offiziellen nicht in Saus und Braus gelebt haben. Die brauchten auch einen Rückzugsort“, sagt er. „Nur schade, dass wir heute hier nicht baden können.“

Wiege der deutschen Romantik kann besucht werden
Auch Besucher aus dem Ausland kommen immer mal wieder auf die Insel. „Das ist schon sehr interessant – vor allem auch die DDR-Geschichte“, sagt Claudia Flecker (59), die mit Mann Roland und Sohn Jan aus St. Gallen in der Schweiz zu Besuch ist. Besonders gefällt ihnen auch die Ruhe auf der Insel. „Auf Hiddensee sind zu viele Leute“, sagt sie. Auf der Insel hingegen trifft man außer der Besuchergruppe kaum jemand.
Und auch die Schönheit des Vilms zieht viele Menschen an und hat auch immer wieder Maler inspiriert, die die Szenerie in Gemälden festhielten. Der bekannteste von ihnen war Caspar David Friedrich, der unter anderem die Steilküste malte. Auch Carl Gustav Carus verewigte den Vilm in seinem Bild „Eichen am Meer“, das im Albertinum in Dresden hängt. Die Insel gilt daher auch als eine der Wiegen der deutschen Romantik.
Bis zum Jahresende gibt es noch einige wenige Touren – vor allem im Oktober noch. Die letzte Tour des Jahres findet traditionell am 30. Dezember statt. „Die ist dann für Stammgäste und Freunde“, sagt Andreas Kuhfuß. Für ihn wird es dann wohl auch die letzte Tour sein. Mit dem neuen Jahr, gibt sein bisheriger Chef seine Reederei an die Weiße Flotte ab. Wie es ab 2025 weitergeht, ist bisher noch unklar.
Exkursionen auf die Insel Vilm mit der MS „Julchen“ mit der Fahrgastreederei Lenz sind noch bis Ende Oktober täglich um 10 Uhr ab dem Hafen Lauterbach möglich. Sie kosten 25 Euro pro Person, Kinder von 6 bis 12 Jahren zahlen 15 Euro. Die Tour sollte vorher auf der Website der Reederei reserviert werden. Ab 2025 betreibt die Weiße Flotte die Exkursionen.