Der Parkplatz vor dem einstigen Volkseigenen Kombinat Kernkraftwerke „Bruno Leuschner“ Greifswald ist gut gefüllt. Es reihen sich viele Mittelklassewagen mit Kennzeichen aus der Region aneinander. Dahinter liegt der sanierte Eingangstrakt des früher größten Atomkraftwerks der DDR mit einem schicken Besucherzentrum. Betrieben wird es vom ENW, dem Entsorgungswerk für Nuklearanlagen. Das Unternehmen ist Eigentümer des riesigen Geländes direkt am Greifswalder Bodden. Heute werden hier nicht nur das Kernkraftwerk Greifswald selbst zurückgebaut, sondern auch Anlagen aus anderen Kernkraftwerken aus den alten Bundesländern und die Reste des Reaktors von Rheinsberg, des ersten AKWs der DDR, zerlegt. Zudem funktioniert das Gelände auch als atomares Zwischenlager.
Im Flur des Besucherzentrums steht Hartmut Schindel, der trotz seiner Pensionierung im Februar weiter Gäste durch seinen einstigen Arbeitsplatz führt. Schindel gehört quasi zum Inventar, war seit 1976 im Kernkraftwerk Greifswald beschäftigt. Zunächst arbeitete er als Schichtleiter in der Konditionierung von radioaktiven Elementen. Bereits Ende der 1960er Jahre waren mehr als 10.000 Menschen auf der Baustelle des Kernkraftwerkes beschäftigt. „Die war nachts taghell“, so Schindel.

Kernkraftwerk Greifswald belebte eine ganze Region
Das Kraftwerk Lubmin, wie es auch hieß, wurde quasi schlüsselfertig aus der Sowjetunion geliefert, sagt Anna Veronika Wendland, Historikerin, die unter anderem zur Atomtechnik forscht. „Dazu kamen auch Ingenieure und Techniker aus der UdSSR zur Hilfe.“ Greifswald, zuvor ein verschlafenes Städtchen, wuchs durch die für das KKW errichteten Plattenbausiedlungen schnell. Der zeitweilig längste Doppelstockzug Europas brachte die Mitarbeiter zu jeder Schicht aus der Stadt zum kraftwerkseigenen Bahnhof. „Der Betriebsausweis war der Fahrschein“, so Schindel. Ende 1973 startete der Testbetrieb. Im Juli 1974 ging der erste Block ans Netz der DDR.
Als Hartmut Schindel 1976 seine erste Schicht begann, wurde Block 3 gerade für den Betrieb vorbereitet. „Ich war immer technisch sehr interessiert“, sagt er. In den 1970er Jahren galt die Kernenergie in der DDR, wie auch in der Sowjetunion, als Zukunftstechnologie. Für die DDR war die Inbetriebnahme ein großer Erfolg, denn in Lubmin wurden mehr als zehn Prozent des gesamten Stroms der DDR produziert. Und die DDR brauchte den Strom für die Industrie.
Die drei nördlichen Bezirke Rostock, Schwerin und Neubrandenburg, die heute das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern ausmachen, waren beinahe ausschließlich vom KKW Greifswald abhängig. Die erste Bewährungsprobe bestand die Anlage in der Schneekatastrophe 1978/79, als durch massive Schneeverwehungen die Kohlekraftwerke stillstanden. „Das Kernkraftwerk Greifswald arbeitete zuverlässig durch und verhinderte wohl Schlimmeres“, berichtet Schindel.

Nach Anzahl der Reaktoren größtes Atomkraftwerk seiner Zeit geplant
Auch als Arbeitgeber war das Kraftwerk beliebt. Die Jobs in Lubmin galten als zukunftsträchtig, waren gut bezahlt. „Und wir haben gut zusammengearbeitet und gemeinsam gefeiert“, erzählt Hartmut Schindel. Große Pläne hatte die DDR-Führung für den Standort. „Greifswald wäre bei Fertigstellung das größte Atomkraftwerk der Welt gewesen – zumindest was die Anzahl der Reaktoren betrifft“, so Schindel. Acht Stück davon hätten am Ende direkt an der Ostsee gestanden.
Die Blöcke 5 bis 8 wären die des neueren Typs WWER-440/213 gewesen. Block 5 war bereits 1989 fertig, ging sogar in den Probebetrieb. Block 6 wurde bereits zu 90 Prozent fertig gebaut. Auf der Besuchertour durch das Kraftwerk ist schon der Schritt durch die Türen der Anlagenräume ein großer. Die Betonwände des im Falle eines Störfalls abgeriegelten Containments sind 1,30 Meter dick. Der Auslegungsstörfall, den die Anlagen Greifswald-5 und -6 mit ihren Notkühlsystemen hätten beherrschen können, wäre wie in den westlichen Anlagen ein vollständiger Abriss der Haupkühlmittelleitung gewesen. Doch vollendet wurden sie nie.

Spiegel-Artikel ruinierte das Image
Erste Risse bekam die Zuversicht in die Atomenergie nach Tschernobyl. Durch Westmedien hörten auch DDR-Bürger von dem Reaktorunglück in der Sowjetunion. Im SED-Politbüro setzte eine Diskussion über die Sicherheit im Kraftwerk ein, die aber im Schatten des wachsenden Energiebedarfs der DDR stand. Doch mit der Wende änderten sich auch die Bedürfnisse für den ostdeutschen Strommarkt. Die westdeutschen Energiekonzerne hatten damals Überkapazitäten und seien wegen der Anti-Atombewegung unter Druck gewesen. „Da hat man den Ball flach gehalten“, so Atom-Expertin Wendland.
Zudem sei absehbar gewesen, dass durch die Abwicklung vieler unwirtschaftlicher DDR-Betriebe der Bedarf für Strom in Ostdeutschland insgesamt sinken würde. Und noch ein Problem gab es: „Die westlichen Fachleute wussten sehr wenig über die Kraftwerke im Osten, und zwar weder über die teilweise dramatischen Störfallerfahrungen, noch über Robustheit und Sicherheitsvorteile des WWER-440/213, die dieser in Störfallsituationen ausspielen konnte“, so Wendland. Als dann im Frühjahr 1990 ein Spiegel-Artikel mit dem Titel „Tschernobyl Nord“ erschien, in dem es um Sicherheitsprobleme in den älteren Reaktoren 1 bis 4 ging, war das Schicksal des größten Atomkraftwerks der DDR besiegelt. „Wenn so etwas passiert, ist man fertig. Das ließ sich imagemäßig nicht mehr reparieren“, konstatiert die Historikerin.
Für die Kernkraftwerker in Greifswald war das hingegen eine Ehrverletzung. „In Tschernobyl waren RBMK-Reaktoren verbaut, bei uns WWER-Reaktoren“, so Hartmut Schindel. Der in Russland bis heute eingesetzte Tschernobyl-Typ, ein graphitmoderierter Druckröhren-Siedewasserreaktor, hatte schwere Konstruktionsmängel, die zum Unfall von 1986 beitrugen, die aber die WWER-Druckwasserreaktoren nicht betrafen.

Baustopp trotz höherer Sicherheit als manche Westreaktoren
Die Empörung der Mitarbeiter nützte nichts. Die Bauarbeiten für Reaktor 7 und 8 wurden gestoppt. Der Probebetrieb von Reaktor 5 wurde im November 1990 untersagt und Reaktor 6 ging erst gar nicht in Betrieb. „Das war für uns als Kernkraftwerker sehr traurig“, berichtet Hartmut Schindel über die Wendezeit. Dabei hat Schindel für die Abschaltung der Blöcke 1 bis 4 sogar Verständnis. „Sie gehörten zum Typ WWER 440/230“, berichtet er. Diese galten auch in den 1980er Jahren schon als veraltet und unsicher. „Die hätte ich auch als Kernkraftbefürworterin abgeschaltet“, so Atomexpertin Wendland.
Block 5 und 6 hätten nach Einschätzung der Expertin zu einigermaßen vertretbaren Kosten für die bundesdeutschen Sicherheitsstandards nachgerüstet werden können. „Der Fertigbau wäre unter Klimaschutz-Gesichtspunkten sinnvoll gewesen, aber das war damals kein Thema“, meint Anna Veronika Wendland. Die beiden Reaktoren hätten ein fortschrittlicheres Sicherheitskonzept als etliche ältere Anlagen in westlichen Ländern. „In Tschechien, der Slowakei und Ungarn wurden die Reaktoren dieses Typs nachgerüstet, laufen bis heute und sind nach EU-Standards genehmigungsfähig.“ Es seien zwar Umbaumaßnahmen notwendig, aber machbar gewesen. Stattdessen habe man in den neuen Bundesländern auf Braunkohle und später auf Erneuerbare gesetzt. „Es wurden sogar noch neue Braunkohlekraftwerke errichtet“, sagt Wendland.

Arbeiter verließen Baustelle über Nacht
Doch es fand sich kein Unternehmen, welches das Risiko für die Kosten übernehmen wollte. Von einem Tag auf den anderen wurden 5000 Bauarbeiter entlassen. „Die ließen ihre Sachen zum Teil abends stehen und kamen früh nicht wieder“, so Schindel. Auch 3000 Mitarbeiter des Kraftwerkes wurden vor die Tür gesetzt. Es blieben nur 1800 übrig. „Heute sind es nur noch 1040“, so der pensionierte Kernkraftwerker.
Immerhin: Bis in die 2050er Jahre sollen die Mitarbeiter mindestens noch Arbeit haben. Und auch für viele andere öffneten sich Türen. „Einige fanden in westdeutschen AKWs Arbeit“, berichtet Anna Vero Wendland. „Die Kernkraftwerker aus Greifswald waren wegen ihrer soliden Ausbildung geschätzt und machten Karriere als Schichtleiter und Abteilungsleiter. Ich habe einige bei meinen Forschungsaufenthalten in westdeutschen Kraftwerken getroffen“, berichtet sie.