Dass der Internationale Kampftag der Arbeiterklasse vielen aus der Arbeiterklasse der DDR ziemlich egal war, habe ich gelernt, als ich in den 80ern für ein paar Jahre im Kabelwerk Oberspree arbeitete. Viele Arbeiter blieben der 1. Mai-Demonstration auf der Berliner Karl-Marx-Allee demonstrativ fern. Pflicht (zum Erscheinen) hin, Pflicht her. Eine Feiertags-Maibowle am Vormittag war vielen verlockender als ein Mai-Marsch an Honecker vorbei. Anders war das bei uns Schülern. Wir hatten Lehrer, die auf uns aufpassten. Aber wir hatten unsere Tricks ...
Der 1. Mai war damals natürlich ein Feiertag, aber kein Tag, den man einfach so verbummeln sollte. Die Teilnahme an den Mai-Demonstrationen war republikweit Pflicht für Schulen und Betriebe. Allein für Berlin, Hauptstadt der DDR, wurden jedes Mal 700.000 bis 800.000 Teilnehmer gemeldet. Auch wenn von Jahr zu Jahr weniger DDR-Bürger Lust auf staatlich verordneten Jubel hatten, sie nicht fähnchenschwingend an der Ehrentribüne mit der Partei- und Staatsführung vorbeiziehen wollten.
1. Mai 1977: Wir mussten mitlatschen – und der Vormittag war kaputt
Ich habe es nur einmal bis ans Ende der großen Mai-Demo auf der Karl-Marx-Allee geschafft, vorbei an Erich Honecker und Willi Stoph, an Horst Sindermann und Erich Mielke, inmitten von Winkelementen schwenkenden Berlinern. Es muss im Jahr 1977 gewesen sein. Meinen Kumpels und mir war von vornherein klar: Wir setzen uns ab – doch die Lehrer machten uns einen Strich durch die Rechnung.
Treffpunkt für unsere Schule, die 2. OS in Berlin-Köpenick, die Schule der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, war irgendwo am Strausberger Platz. Frühmorgens. Nach Klassen sortiert, überall Lehrer, die aufpassten, das keiner vorzeitig entwischte.
Als es dann losging, machten wir den Anfängerfehler. Wir ließen uns zurückfallen, um stiften zu gehen. Doch unsere Lehrer liefen aufgefächert hinter uns und scheuchten jeden zurück in Reih und Glied, der nur ein bisschen langsamer wurde. Und so mussten wir gezwungenermaßen bis zum Ende der Demonstration mitlatschen – und der schöne Vormittag war kaputt.
Aber der Schüler ist ja lernfähig. Bei der Mai-Demo im Jahr darauf machten wir genau das Gegenteil. Wir liefen viel schneller als der Rest, vorne war ja keiner unserer Lehrer, wir überholten andere, schulfremde Marschierer, und schlugen uns dann nach fünf Minuten, außer Sichtweite unserer Lehrer und Mitschüler, nach links in die Büsche. Richtung S-Bahnhof Jannowitzbrücke. Die paar missbilligenden Blicke von Fremden im Demonstrationszug ignorierten wir.
Der Trick klappte von da an jedes Jahr. Wir kamen immer kurz vor knapp zum Strausberger Platz, aber rechtzeitig genug, dass einen die Lehrer wenigstens einmal wohlwollend registrieren konnten.

Aufmärsche, Jubelspaliere bei Staatsbesuchen: Das gehörte zum Schulalltag dazu – und die kamen uns während der Schulzeit oft auch ganz gelegen, weil wir dann für ein paar Stunden sicher vor Diktaten und Mathearbeiten waren. Der erste Besuch, an den ich mich erinnere, war der von Luis Corvalan, Chef der Kommunistischen Partei Chiles, der im Januar 1977, kurz nach seiner Haftentlassung in Chile, die DDR und das Allende-Viertel in Berlin-Köpenick besuchte, nur einen knappen Kilometer von unserer Schule entfernt.
Oft mussten wir auch raus zum Adlergestell nach Berlin-Adlershof. Die Protokollstrecke, die vom Flughafen-Schönefeld in die Stadtmitte führte. Frisch gelandeter Staatsbesuch kam hier in dunklen Limousinen vorbei. Erst in russischen Tschaikas aus sowjetischer Produktion, später in schwarzen Volvos, die die DDR in Schweden kaufte.
Da die Ecke in Adlershof nicht gerade dicht besiedelt ist und Häuser nur auf der einen Seite der Straße stehen, mussten wir als Schule zum Jubeln antreten, um für sichtbare Masse zu sorgen.
DDR-Demonstrationen: Und überall stand die Stasi
Fast alle Staatsgäste, für die wir damals aufgereiht wurden, habe ich schon wieder vergessen. Nur ein Tag blieb mir in Erinnerung. Der 21. September 1978. Denn da begrüßten wir ausnahmsweise mal echte Helden. Die Kosmonauten Sigmund Jähn und Waleri Bykowski, die gerade zurück aus dem Weltall waren. Die fanden auch wir cool. Im offenen Tschaika wurden sie durch Berlin gefahren und gefeiert. Ich habe mir gerade Bilder von damals angeschaut: Dass da auch noch Erich Honecker zwischen den beiden Kosmonauten im Auto stand, hatte ich in meiner Erinnerung komplett verdrängt.
Eines fiel mir bei dem Empfang von Sigmund Jähn erstmals auf: die Präsenz der Stasi. Das Ministerium der Staatssicherheit musste die Protokollstrecke absichern – und die Jubelnden im Auge behalten. An fast jedem Hauseingang stand ein Mann. Unauffällig auffällig. Ich sehe sie noch vor mir: immer allein, immer ein paar Meter hinter den an der Straße Stehenden. In Jeans, Hemd, oft in Lederjacke, manchmal im Anzug, fast immer mit Handgelenktäschchen.

Die Häuser entlang der Protokollstrecke waren immer geflaggt. Mit DDR-Flaggen, manchmal auch in den Landesfarben der Gäste. Die Wohnungen besonders eifriger SED-Genossen ließen sich auch ganz einfach ausmachen – an den montierten Fahnenhaltern neben den Fenstern.
Flaggen mussten sein, nicht nur bei Staatsempfängen. Auch am 1. Mai und am 7. Oktober, dem Tag der Republik. Wer da nicht Flagge zeigte, galt als verdächtig. Das konnte ich auch der Stasiakte über mich entnehmen: Eifrige Nachbarn hatten damals gepetzt, dass meine Eltern an den Feiertagen nie eine DDR-Fahne aus dem Fenster hängen würden. Eine Beflaggung an Staatsfeiertagen sei nie festzustellen gewesen, heißt es in einem der Berichte. Der Grund war simpel: Wir hatten nicht mal eine Fahne. So ein Quatsch brauchen wir nicht, sagte meine Mutter damals.
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