Leons letzter Sommer beginnt mit der typischen Schuljahresend-Rallye. Am 31. Juli hatte er noch seinen 13. Geburtstag gefeiert, jetzt ist er schon ein Teenager. Ein Junge voller Vorfreude auf die Ferienzeit mit seiner Mama und dem jüngeren Bruder Marlon. Zwei lange Sommerwochen wollen die drei in Berlin und Umgebung Ausflüge machen, in den Zoo, ins Kino und zum Baden fahren.
Doch die Sommerferien sind noch keine drei Wochen alt, als Leons Leben jäh endet. Seitdem ist für seine Mutter, Sabrina Trosin, und für die ganze Familie nichts mehr wie zuvor. Ihrem sonnigen Dreiergespann fehlt die Mitte, fehlt Leon.
Jetzt, wo der Herbst die Blätter so bunt färbt, muss Sabrina einen Grabstein für ihr Kind aussuchen. „Für immer unvergessen“ soll auf dem steinernen Herz stehen, für das Sabrina eigentlich gar nicht genug Geld hat. Wegen Leons Behinderung arbeitet Sabrina Trosin in Teilzeit bei einem Bäcker als Verkäuferin. Ihre Schwester hat eine Spendenaktion gestartet, damit ihr Neffe einen würdigen Gedenkstein bekommt.

„Leon war ein strahlender Junge, der das Leben so liebte“, sagt seine Tante, Alexandra Trosin, über den Jungen, der mit dem Downsyndrom zur Welt kam.
Doch das zusätzliche Chromosom sorgte bei Leon kaum für Probleme. Herzfehler, stark verzögerte Entwicklung, andere Anfälligkeiten für Krankheiten, all das musste er in seinem kurzen Leben nicht schultern. Stattdessen bezaubert Leon alle um ihn herum mit seiner unbändigen Offenheit, seinem großen Herzen für alles und jeden.
Tage mit Leon waren gute Tage
„Leon war unser Familientherapeut“, sagt seine Mutter Sabrina. Gab es einmal Stress oder Streit, war er es, der alle beruhigte, sie zum Reden wieder an einen Tisch brachte. „Dein Tag kann noch so schlecht sein, du triffst Leon und es geht dir besser.“
So viele kleine Erinnerungen tauchen auf und wollen festgehalten werden, als die Familie von Leon erzählt. Wie er immer am Bart des Schwagers spielen wollte. Dass er im Auto so gern an allen Knöpfen drehte. Wie sehr er das Fußballspielen mit seinem Bruder Marlon liebte. Wie er es immer wieder schaffte, dass aus Wildfremden in kürzester Zeit Freunde wurden. „Leon war der lebensfrohste Mensch, den ich kenne“, sagt seine Tante Katharina. „Selbst wenn er mal sauer war, war er unendlich süß.“

Einmal habe ihm ein BSR-Mitarbeiter seinen orangefarbenen Pullover geschenkt, weil Leon die Müllabfuhr immer so gern beobachtete, erinnert sich Sabrina Trosin. Beim Bäcker staubte er nicht nur einmal einen Kakao oder ein Croissant ab. Selbst Mamas Chefin in der Bäckerei umarmte ihr Großer unbefangen. Für Leon waren alle Menschen gleich liebenswert.
Sabrina Trosin ist alleinerziehend. Sie und ihre beiden Jungs gehen durch dick und dünn. Ob sie glücklich waren? „Ja, das waren wir“, sagt Sabrina Trosin.
Was geschah am See?
Ab und zu sind die Jungs auch beim getrennt lebenden Vater, besonders Leon mag die Ausflüge zu ihm. Auch am 9. August, einem Samstag, ist Leon mit dem Vater unterwegs am Neuen See in Falkensee. „Leon liebte das Wasser, liebte das Tauchen, aber er konnte nicht Schwimmen“, sagt seine Mutter.
Was genau an dem Nachmittag geschah, der alles veränderte, weiß Sabrina Trosin bis heute nicht. Leon muss beim Baden Probleme bekommen haben, unter Wasser geraten sein. Erst als er am Ufer des Sees schon eine halbe Stunde reanimiert wird, informiert die Freundin des Vaters die Mutter. Der Vater beteuert bis heute, er wisse nicht, wieso Leon plötzlich unter Wasser war.
Leon kämpft um sein Leben
Als Sabrina Trosin am See ankommt, wird sie nicht zu ihrem Sohn gelassen, der in dem Moment wie ein Löwe um sein Leben kämpft. Leon wird ins Krankenhaus gebracht und auch hier herrschen nichts als Ungewissheit und Bangen. Leon wird noch einmal ins Virchow-Klinikum verlegt, doch die Ärzte haben wenig Hoffnung, dass er es schafft. Am 10. August 2025 um 1.31 Uhr stirbt Leon. Seine Familie ist bei ihm.

Heute, elf Wochen später, kämpft Sabrina darum, irgendwie in der neuen Realität zurechtzukommen. „Für Marlon wird es immer schlimmer“, sagt sie. „Es ist richtig blöd ohne Leon“, sagt ihr jüngster Sohn. Im Zimmer der Jungs haben sie noch nichts verändert. Und Leons Kissen riecht nur noch ganz schwach nach ihm. Immer wieder schaut sie Videos von Leon, geht zum Friedhof an sein bunt geschmücktes Grab.
Mittlerweile hat der Steinmetz das Herz, für das viele Kollegen, Freunde und auch Fremde spendeten, aufgestellt. „Es tut gut zu spüren, dass Leon ihnen nicht egal ist“, sagt Sabrina Trosin. Doch die Ungewissheit darüber, wie das Unglück passieren konnte, macht sie und ihre Schwestern wütend. Ein Ermittlungsverfahren soll Klarheit über die genauen Umstände des Geschehens bringen.
Leon aber wird weiter fehlen. Im November feiert Marlon, der kleine Bruder, der den großen verlor, seinen 12. Geburtstag, ohne dass Leon wie sonst immer in sein Zimmer kommt und ihn freudig weckt. Es wird ein erstes Weihnachten ohne Leon geben und einen nächsten Sommer. Sabrina Trosin wird an ihren Großen denken, jedes Mal, wenn sie Eiersalatbrötchen isst, die er so liebte. Als neulich eine Eichel am Grab direkt auf Sabrinas Kopf fiel, war es als höre sie ihre Leon sagen: „Nur ein Prank, Mama.“


