Menschen brauchen Orte. Einen Tresen, Stühle, Tische, ein, zwei Bier. Und dann kommen sie, wenn es gut läuft, in Kontakt miteinander. Als soziale Wesen brauchen Menschen den Austausch, die Reibung, das alleinige Dasein des Gegenübers. Im Höher’s Eck an der Rhinower, Ecke Gleimstraße fand so ein Austausch jeden Abend statt. Schon am Nachmittag schneiten sie rein, die Stammgäste, die Alten, die Hippen, manche mehrmals die Woche, andere seltener. Diese Kiez-Mischung, die sei unvergleichlich gewesen, werden die Leute nicht müde zu betonen.
Kiezkneipe in Prenzlauer Berg muss schließen
Gewesen – das ist der Knackpunkt an dieser 100-jährigen Kneipengeschichte. Denn am 5. Oktober 2023 schloss die Kneipe mit den holzvertäfelten Wänden und der gelbgerauchten Decke für immer.
Am Schild neben den heruntergelassenen Rollläden steht noch immer „geschlossen, für immer“. Ein trauriger Smiley darunter, als Zeichen für einen großen Verlust im Kiez. Dass das Aus nun doch so schnell da war, kam für alle überraschend. Sonja und Athina Dürre, die Wirtinnen, hatten gehofft, wenigstens noch bis zum Ende des Jahres weitermachen zu können. „Doch dann kam der Räumungsbrief mit dem Datum 5. Oktober“, sagt Sonja am Telefon.

Die Wirtinnen schmeißen eine letzte Party, zapfen das letzte Fass Bier leer, räumen die komplette Einrichtung ins Lager, und nicht wenige Gäste weinen mit den Wirtinnen um ein lieb gewonnenes Wohnzimmer.
Am Morgen des 5. Oktober kommen Bauarbeiter, lassen sich die Schlüssel geben und tauschen die Schlösser aus. Das Höher’s Eck ist nach 100 Jahren Geschichte.
Das letzte Kapitel des Ecks war vielleicht sein buntestes. Mit den beiden Wirtinnen hätte es eigentlich eine sichere Zukunft gehabt. Die Gäste kamen zuhauf, der Laden brummte. Er brummte zu laut.
Denn dass man nun befürchten muss, dass eine der wenigen authentischen Kiezkneipen mit Holzdecke und Parkett so glatt saniert wird, dass eine Arztpraxis oder ein Büro einziehen kann, liegt an den Beschwerden einzelner Nachbarn. Sie wollten nicht länger mit dem Lärm leben, den Menschen machen, wenn es ihnen zusammen gut geht.
Pankow will bedrohte Kneipen besser unterstützen
Nach Beschwerden bei der Hausverwaltung hatte der Eigentümer des Hauses, ein dänischer Investmentfonds, die Kündigung gegen die Kneipe ausgesprochen. Seit dem Sommer versuchten die Gäste und Wirtinnen, das Ruder doch noch herumzureißen, sammelten 10.000 Unterschriften und machten unzählige Angebote zu Gesprächen.
Selbst Bezirkspolitiker brachten Athina und Sonja auf ihre Seite. Die SPD im Bezirk Pankow forderte einen Kneipengipfel und stellte einen entsprechenden Antrag in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV). Der Bezirk soll demnach bedrohte Gastronomen zukünftig besser unterstützen.
„Traditionsgaststätten haben eine wichtige soziale Funktion. Kiezkneipen wie das Höher’s sind Orte des Miteinanders, des Austausches und des generationsübergreifenden Zusammenhaltes“, sagt der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion Thomas Bohla. „Für ihre Rettung und den Erhalt der Pankower Kneipenkultur können und müssen wir seitens des Bezirks mehr tun.“

Für das Höher's kommen alle Rettungsversuche zu spät. Dabei ist es genau dieses zufällige Zusammentreffen jenseits aller Blasen, das Kiezkneipen wie diese so unverzichtbar und auch unnachahmbar macht. „Nun gehen die Jungen wieder in Bars, in die junge Menschen eben gehen, die Sportfans gehen in die Sportbar und die Alten bleiben zu Hause“, sagt Susanna, die ebenfalls oft im Höher’s Eck Gast war.
Mit all den Asia-Restaurants, Coffee-Shops, bei den Italienern und Frühstückslokalen, die es in der Gegend gibt, ist es undenkbar, dass der grummelige alte Mann in der Rockerkutte auf den schwulen Barkeeper trifft, das Partyvolk ins Gespräch mit dem Opa aus Ost-Berlin kommt.

Sie habe schon mehrere Anrufe von Stammgästen erhalten, sagt Sonja. Wo sollen wir jetzt hin, fragen die Rüstigen. „Ich hab ja jetzt gar keine Gesellschaft mehr“, sagen die Einsamen. „Es fehlt ein ursprünglicher, historischer Ort, an dem man sich neu zwischen den Generationen begegnen kann, das fällt ersatzlos weg“, sagt Susanna.
Schon in der DDR war das Höher’s eine Kneipe
Die Entwicklung im Kiez betrachten die Anwohner mit Sorge. Wenn eine einzige Beschwerde das Verschwinden solcher Orte bewirkt, ist das ein katastrophales Signal für alle anderen Gastronomen in Berlin. Was bleibt, ist ein großes Gefühl der Machtlosigkeit. Dass der Markt über die Historie des Kiezes, über die Bedürfnisse der Bewohner hinweg entscheidet, macht ohnmächtig. Und wütend. „Und wenn es jetzt keine Gesetze gibt, die verhindern, dass solche Kiezkneipen verschwinden, dann muss man sie machen – bevor die letzten Orte für Menschen verschwunden sind“, sagt Susanna.

Das Höher’s Eck war seit 100 Jahren eine Gastwirtschaft. Man konnte hier an weiß gedeckten Tischen speisen, in der DDR war das Höher’s die einzige Kneipe im Kiez, die bis 24 Uhr offen war und wo man auch spät noch was zu essen bekam. Die Täfelung an den Wänden im Stil der Jahrhundertwende kann so manche Geschichte erzählen. Echte Berliner treffe man in der Stadt doch kaum noch, heißt es immer. Im Höher’s, vor und hinter der Bar, da waren sie. Wieder ein Stück Berlin weniger, zucken die Müden mit den Schultern. Fachsimpeln und Feiern, Flachwitze und Philosophieren. Futschikato.