
Zwanzig Minuten vor elf schreit auf dem Berliner Alexanderplatz nur ein Kind gegen den Lärm der nahen Baustelle an. Die Straßenbahn zuckelt wie immer, die S-Bahn quietscht. Kaum zu glauben, dass in wenigen Minuten ein Sirenengeheul diesen Lärm der Großstadt übertönen – und die Menschen, wenn auch nur zur Probe, aus ihrem Alltag reißen soll.
Beim bundesweiten Warntag wurden am Donnerstagmittag in ganz Deutschland und auch in Berlin sämtliche Kanäle getestet, auf denen man im Notfall die Bevölkerung erreichen will. Radioansagen, Lautsprecherwagen, Anzeigetafeln, die Warnung auf dem Handy und das Heulen von Sirenen – der Mix aus verschiedenen Mitteln soll eine größtmögliche Anzahl an Menschen erreichen.
Anita aus Marzahn wartet an der Weltzeituhr auf eine Freundin. Und sie wartet auch auf den Warnton. Anders als viele Touristen, die hier unterwegs sind, hat sie schon im Vorfeld von dem Warntag gehört. „Es macht einem schon ein mulmiges Gefühl“, sagt sie. Die gesamte Weltlage führe dazu, dass man sich wohl wieder an Sirenenwarnungen gewöhnen müsse.
Als um elf Uhr tatsächlich aus der Entfernung eine Sirene zu hören ist, klingt das aber viel weniger eindrucksvoll als befürchtet. „Das war ja gar nicht so laut“, sagt die 83-Jährige erleichtert.
Sirene mit Weckfunktion und hoher Durchsetzungskraft
„Die Sirene ist in dem Mix das robusteste Warnmittel mit Weckfunktion und hoher Durchsetzungskraft“, heißt es in einer Mitteilung des Verbands der Hersteller von Bevölkerungswarnsystemen e.V. Eine flächendeckende, ausfallsichere Sireneninfrastruktur sei zur bundesweiten Alarmierung der Bürger deshalb das definierte Ziel der Bundesregierung.
In Berlin waren am Donnerstag allerdings nur 200 Sirenen einsatzbereit. Damit sei man hinter dem gesteckten Ziel geblieben, so der zuständige Projektleiter Markus Kaatz. Bis Ende des Jahres sollen 450 Sirenen in Berlin einsatzbereit sein, in den nächsten beiden Jahren kommen noch mehr als 100 dazu.

Dass nicht alle verfügbaren Sirenen auch liefen, war an diesem Donnerstag an der Feuerwache in der Voltairestraße nahe dem Roten Rathaus zu beobachten. Dass die Sirene auf dem Dach nicht aktiviert wurde, entlockt einem Feuerwehrmann, der aus dem Gebäude kommt, aber nur ein freundliches Schulterzucken.
Nach dem Ende des Kalten Krieges waren Sirenen an vielen Standorten in Berlin abgebaut beziehungsweise kaputte Anlagen nicht mehr ausgetauscht worden, weil man glaubte, sie nicht mehr zu benötigen. Seit 30 Jahren heulten in Berlin keine öffentlichen Sirenen mehr. Die letzte der früher in ganz Deutschland üblichen Sirenen wurde demnach in Berlin 1993 abgebaut.
Noch keine flächendeckende Warnung
Unter anderem Erfahrungen aus der verheerenden Flut im Ahrtal 2021 und der russische Angriffskrieg in der Ukraine haben zu einem Umdenken geführt. Das Eindringen russischer Kampfdrohnen in den Luftraum über Polen in der Nacht zu Mittwoch ist ein Beispiel für einen Zivilschutzfall, in dem es notwendig sein kann, die Bevölkerung eines Gebiets kurzfristig zu warnen.

Auch in anderen europäischen Ländern finden solche Warntage wie am Donnerstag in Berlin statt. Jamie und Ellie aus der Nähe von Manchester erzählen, dass sie zu Hause in England eine Test -Warnung erst vergangene Woche miterlebt haben. Hier auf dem Berliner Alexanderplatz haben sie sich zunächst ganz schön erschrocken. „Aber gut, dass das auch hier geübt wird“, sagt Jamie. Auch die Jugendlichen, die für ein Schulprojekt in Mitte unterwegs sind, müssen sich gegenseitig vergewissern, als ihre Handys zeitgleich zu brummen beginnen: „Das ist nur ein Test.“
Berlin ist noch weit entfernt von einer Warnung, die flächendeckend funktioniert: „Als ‚flächendeckend‘ sehen wir als Verband der Hersteller von Bevölkerungswarnsystemen e.V. die Definition der Schweiz an, die 95 Prozent der Bevölkerung erreichen will“. Dafür würden nach Berechnungen des Verbands in Deutschland 85.000 bis 90.000 Sirenen benötigt. Der aktuell geschätzte Bestand an Sirenen liegt bei 40.000. Davon sind 35.000 Motorsirenen, die ersetzt oder wenn möglich auf digitale Alarmierung umgerüstet werden müssten. Wenn alle Kommunen verwirklichen, was sie sich vorgenommen haben, sieht der Verband 2035 als realistisches Ziel für eine bundesweit flächendeckende Sirenenwarnung.