Berliner Filmproduzentin

Alice Brauner: „Antisemitismus-Tsunami trifft uns“

Produzentin Alice Brauner spricht über Antisemitismus in der Filmbranche, Hass im Netz und ihren neuen Holocaust-Film „Block 10“.

Author - Daniel Cremer
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Dr. Alice Brauner studierte an der freien Universität Berlin, 2006 stieg sie in die Firma ihres Vaters Artur „Atze“ Brauner ein. Seit 2019 ist sie dort Geschäftsführerin.
Dr. Alice Brauner studierte an der freien Universität Berlin, 2006 stieg sie in die Firma ihres Vaters Artur „Atze“ Brauner ein. Seit 2019 ist sie dort Geschäftsführerin.paulus ponizak

Sie hat sich längst aus dem Schatten ihres berühmten Vaters, des legendären Filmproduzenten Artur „Atze“ Brauner (†100), herausgelöst und eine eigene Stimme gefunden: Dr. Alice Brauner spricht im KURIER über die Wucht des Antisemitismus, die sie und andere jüdische Filmschaffende derzeit erleben. Sie erzählt von Hass in sozialen Medien, Morddrohungen und ihrer Entschlossenheit, sich nicht mundtot machen zu lassen. Und verrät, warum sie froh ist, dass ihr Vater all das nicht mehr miterleben muss. 

Berliner Kurier: Es ist zu diesem Interview heute gekommen, weil Sie auf der Gala des Kinoverleihs HDF KINO e.V. in Berlin aufgestanden sind und einen Satz gesagt haben, bei dem vielen im Raum mulmig wurde. Und zwar, dass sich jüdische Filmschaffende bedroht fühlen, weil die Hälfte der Kulturschaffenden Pro-Hamas-Petitionen unterschreibt. 
Dr. Alice Brauner: Ja, eigentlich sollte ich den Satz gar nicht sagen. Ich war da, um über die Magie des Kinos zu sprechen. Aber dann hat Kulturstaatsminister Weimer sich nochmal klar gegen Antisemitismus positioniert, weil kurz zuvor Lahav Shani, der Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, bei einem Festival ausgeladen wurde. Das passiert mittlerweile fast seit zwei Jahren, dass jüdische oder israelische Künstlerinnen und Künstler gecancelt werden. Und ja, ich bin aufgestanden, weil ich das Gefühl habe, dass man auf diese Vorgänge auch in Person bei solchen Veranstaltungen aufmerksam machen muss.

Warum ist das wichtig?
Wenn ich so eine Aussage in den sozialen Medien poste, dann heißt es: Ach, jetzt kommt wieder die Opfer-Arie oder die Judenkarte. Allein das ist schon skandalös, weil jeder, der mich kennt, weiß, dass ich 0,0 Prozent Opfer bin. Ich wollte, dass die Menschen auf der Gala das auch sehen – dass ich kein Opfer bin und mir durch diesen absurden Quatsch nicht das Recht nehmen lasse, diese Vorgänge anzusprechen.

„Ich bin sehr hart angegangen worden“

Fühlen Sie sich bedroht?
In den sozialen Medien bin ich – sind andere Filmschaffende – sehr hart angegangen worden. Das kann man auf dem Instagram-Konten einiger bekannter Schauspielerinnen und Schauspieler nachlesen. Israelis, Juden, Menschen, die uns unterstützen, erleben das jeden Tag auf brutale Art und Weise. Die Schauspielerin und Journalistin Sarah Maria Sander hat es wirklich brutal abbekommen – dabei war auch sie immer bemüht, beide Seiten zu sehen.

Welche Auswirkungen hat das im täglichen Leben?
Ich habe Freunde, die ihre Praxis aufgegeben haben. Ich habe Freunde, bei denen das LKA eingezogen ist, weil es Morddrohungen gab. Sie wollen jetzt Namen hören, aber die werde ich nicht nennen, um die Menschen zu schützen. Aber so wahr ich hier sitze – es gibt sie. Eine Bekannte wurde vom Mossad angerufen, man sagte, sie müsse Deutschland sofort verlassen, ein Attentäter sei unterwegs. All die unvorstellbaren Dinge sind zur Lebensrealität für Juden geworden.

Dr. Alice Brauner bei den Dreharbeiten zu ihrem aktuellen Film „Block 10“, der in den CCC-Filmstudios in Berlin-Spandau fertiggestellt wird.
Dr. Alice Brauner bei den Dreharbeiten zu ihrem aktuellen Film „Block 10“, der in den CCC-Filmstudios in Berlin-Spandau fertiggestellt wird.Anne Wilk / © CCC Cinema und Television

Wie geht es Ihnen damit?
Ich bin zutiefst erschüttert darüber, mit welcher Wucht dieser Antisemitismus-Tsunami uns getroffen hat.

Haben Sie Freunde verloren?
Nein, Menschen, die ich als Freunde bezeichnen würde, habe ich nicht verloren. Aber es gab und gibt hitzige Diskussionen. Ich bin mit einem nicht-jüdischen Mann verheiratet, und auch wir diskutieren über das Thema. Das ist ja auch überhaupt nicht verboten – oder Israel zu kritisieren. Meine Eltern sind Holocaust-Überlebende, da hat man offensichtlich einen anderen Respekt mir gegenüber. Aber was hinter meinem Rücken gesagt wird, möchte ich gar nicht wissen.

„Netanjahus Vorgehen in Gaza war teilweise unverhältnismäßig“

Haben Sie denn eine Meinung zu Benjamin Netanjahu?
Natürlich. Sein Vorgehen in Gaza war teilweise unverhältnismäßig. Es geht mir, wie gesagt, auch nicht darum, dass er – oder Israel – von jeglicher Kritik ausgeschlossen ist. Und ich bin eine ausgesprochene Gegnerin von Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, Gegnerin der Radikalen in der Regierung. Ich lehne jede Form von Fanatismus ab!

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.dpa

Gibt es Menschen in der Filmbranche, mit denen Sie nicht mehr zusammenarbeiten würden?
Es gibt Menschen, mit denen ich ganz sicher nicht mehr zusammenarbeiten werde. Nach deren Äußerungen, nachdem sie sich im Netz eindeutig an Hass und Hetze beteiligt haben, gibt es kein Zurück mehr für mich. Mit den Petitionen gehe ich etwas toleranter um – da wird einem oft etwas hingelegt und gesagt: Hier, unterschreib das mal, das ist für Frieden. Viele unterschreiben die dann schnell ungelesen, weil ja keiner etwas gegen Frieden haben kann. Aber mit denen, die sich aktiv an Judenhass beteiligt haben, sich offen antisemitisch geäußert haben – mit denen werde ich nie wieder zusammenarbeiten.

Gibt es konkrete Beispiele?
Ich kann nur sagen – es wird Agenturen geben, mit denen ich nicht zusammenarbeite, und definitiv Schauspielerinnen und Schauspieler, mit denen ich nie, wirklich nie wieder arbeiten werde. Im Gegenzug aber: Sarah Maria Sander, die den Mut hatte, um gegen die 200 Kulturschaffenden und ihren verbrämten Antisemitismus zu kämpfen, hat in meinem neuen Film eine Rolle bekommen. Sie ist eine wunderbare Schauspielerin, und ihre Courage war ein positives Beispiel. Es wird in Zukunft noch wichtiger sein, sich gegenseitig zu unterstützen.

Alice Brauner, Artur „Atze“ Brauner und seine Ehefrau Maria im Februar 2014 bei der Eröffnung der 64. Berlinale.
Alice Brauner, Artur „Atze“ Brauner und seine Ehefrau Maria im Februar 2014 bei der Eröffnung der 64. Berlinale.imago stock&people

„Mein Vater hätte die aktuelle Situation nicht überlebt“

Was würde Ihr Vater zu all dem sagen?
Ich vermisse meine Eltern jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde. Meine Mutter war meine engste Bezugsperson, meinen Vater habe ich immer bewundert. Jetzt ist es zum ersten Mal so, dass ich dem Schöpfer danke, dass sie das nicht mehr erleben müssen. Mein Vater hätte die aktuelle Situation nicht überlebt – spätestens nach dem 7. Oktober 2023 und den Reaktionen in Deutschland hätte er einen Herzinfarkt bekommen. Er hat schon nach der Wende gesagt, dass sich der Wind dreht. Das, was jetzt passiert, war immer seine größte Sorge.

Was haben Sie darauf entgegnet?
Quatsch und nein, und hör auf, du redest dir was ein, weil du denkst, jetzt kommt wieder Großdeutschland oder so. Aber es war schon zu spüren. Und der Konflikt jetzt war für viele wie ein Trigger, einfach mal all den aufgestauten Hass, die aufgestaute Wut gegen Juden rauszulassen. Das hängt bei vielen auch mit der eigenen Unzufriedenheit zusammen. Und das Judentum und Israel haben sich als Zielscheibe dieser Unzufriedenheit schon immer geeignet – leider. Im Nachhinein muss man sagen: Der Antisemitismus war immer da – mal mehr, mal weniger. Ganz weg war er nie.

Artur „Atze“ Brauner und seine Tochter Alice standen sich bis zu seinem Tod nah.
Artur „Atze“ Brauner und seine Tochter Alice standen sich bis zu seinem Tod nah.dpa

Wir haben bisher nur über die Pro-Palästina-Szene gesprochen. Was halten Sie von der AfD?
Ich halte das Kleinreden dieser ganzen radikalen Köpfe in der AfD für gefährlich. Wenn Aussagen kommen wie: Die Partei ist doch insgesamt in Ordnung – ist sie nicht. Und die Diskussion über ein Aufweichen – oder sogar ein Einreißen der Brandmauer – macht mir Angst. Ich kann nur an jeden in der CDU appellieren, sich davon zu distanzieren.

Glauben Sie, dass es jetzt mit dem Abschluss des Friedensabkommens besser wird?
Aus meiner Sicht kann ich sagen, dass Narben bleiben werden. Aber ob es besser wird? Vielleicht wird es eine Zeit lang besser – aber es scheint vieles tief verankert zu sein. Der Hass auf Juden ist vielleicht der letzte Summenbruch, bei dem alle Extremisten auf einen gemeinsamen Nenner kommen.

„Ich bin mit Herrn Weimer als Kulturstaatsminister sehr zufrieden“

Gibt es etwas, das Sie sich als jüdische Unternehmerin von der Bundesregierung wünschen?
Ich bin mit Herrn Weimer als Kulturstaatsminister sehr zufrieden. Er könnte in seiner Haltung nicht klarer sein. Von Friedrich Merz wünsche ich mir weniger … Rumgeeiere? Auf der einen Seite steht er in der Münchner Synagoge, und es kommen ihm die Tränen – die ich ihm auch abnehme. Auf der anderen Seite hat er mit dem Stopp der Waffenlieferungen ein falsches Signal gesendet. Man kann zum Beispiel Markus Söder kritisieren, wie man will. Aber er hat in dieser Sache eine glasklare Haltung gezeigt, die ich bei Merz vermisst habe. Und nochmal: Das bedeutet nicht, dass man die Vehemenz, mit der Netanjahu in Gaza vorgegangen ist, gutheißen muss.

AfD-Vorsitzende Alice Weidel.
AfD-Vorsitzende Alice Weidel.dpa

Ich möchte noch einmal auf die AfD zu sprechen kommen. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie die aktuellen Umfragen sehen?
Ich verstehe die Ergebnisse auf kommunaler Ebene. Es gibt in Deutschland, gerade im ländlichen Bereich, riesige Infrastrukturprobleme. Wenn du als 70-Jähriger 20 Kilometer zur nächsten Apotheke, zum nächsten Supermarkt fahren musst, dann hast Du das Gefühl, abgehängt zu sein. So ein Mensch hat das Gefühl, die etablierten Parteien haben ihn im Stich gelassen. Ich sehe das Problem. Ich weiß aber auch: Die AfD ist nicht die Lösung. Sie wird es nicht besser machen.

„Alice Weidel ist mir zu extrem“

Was halten Sie als Frau von Alice Weidel?
Sie ist mir zu extrem, ihre Wortwahl ist mir zu vernichtend. Ihre kategorische antimuslimische Einstellung, die immer wieder in Beleidigungen entgleist – ich verstehe nicht, wie man in dieser Frau eine Art Heilsbringerin sehen kann.

Wenn die AfD die nächste Bundestagswahl gewinnt?
Dann hätte ich ein Problem damit, in Deutschland zu bleiben. Aber dann würden gerade die, die das unterstützen, sagen: Gut! Hau doch ab! Endlich weg mit denen! Ich bin Deutsche – warum sollte ich abhauen? Es ist ein Zwiespalt.

Wie sehen Sie die aktuelle Stadtbild-Debatte?
Seit 2015 haben sich zweifellos gesellschaftliche und sicherheitspolitische Herausforderungen aufgetan, derer sich die Bundesregierung annehmen muss. Gerade für Frauen hat sich die Lage verschärft. Mit dem Schüren von Ressentiments ist aber nichts gelöst. Aber wenn Menschen egal welcher Nationalität oder welchem Kulturkreis sie auch angehören mögen, sich aktiv gegen die Werte unserer Demokratie stellen, dann muss man das klar ansprechen dürfen, als strukturelles Problem anerkennen und dagegen vorgehen.

Alice Brauner bei den Dreharbeiten zu ihrem aktuellen Film. Inhalt: In Auschwitz, inmitten eines Männer-KZ, ließ die SS Anfang 1943 ein zweistöckiges Gebäude, den Block 10, vom übrigen Gelände abtrennen. In ihm wurden hunderte jüdische Frauen auf engstem Raum eingesperrt. Drei NS-Mediziner erprobten an ihnen schmerzhafte Methoden der Zwangssterilisierung.
Alice Brauner bei den Dreharbeiten zu ihrem aktuellen Film. Inhalt: In Auschwitz, inmitten eines Männer-KZ, ließ die SS Anfang 1943 ein zweistöckiges Gebäude, den Block 10, vom übrigen Gelände abtrennen. In ihm wurden hunderte jüdische Frauen auf engstem Raum eingesperrt. Drei NS-Mediziner erprobten an ihnen schmerzhafte Methoden der Zwangssterilisierung.Anne Wilk / © CCC Cinema und Television

Sie stecken aktuell mitten in den Dreharbeiten zu „Block 10“ – einem Film über den berüchtigten Bereich im KZ Auschwitz, in dem ab 1943 systematisch Frauen für medizinische Experimente missbraucht wurden.
Ja – ich würde sagen, das ist mein wichtigster Film bisher. Die Erinnerung muss lebendig bleiben, die Holocaust-Relativierer dürfen nicht die Oberhand gewinnen. Der Film basiert auf Zeugenaussagen – er ist nicht laut, aber sehr eindringlich.

Wie ist das für Sie? Auf den Straßen antisemitische Ausfälle, und hier im Filmstudio wird der Schrecken von Auschwitz nachgestellt?
Dr. Alice Brauner: Ich führe mit „Block 10“ auch das Vermächtnis meines Vaters weiter. Mein Vater ist eben nach Deutschland zurückgekehrt, um den Leuten den Spiegel vorzuhalten – und ich werde damit nicht aufhören.