Union-Kolumne

Eisern, doch in Gedanken bei Sir Bobby Charlton

Das 0:3 gegen Stuttgart war trotz der Krise des 1. FC Union ein Tag, an dem der aktuelle Fußball plötzlich nicht mehr ganz so wichtig ist.

Teilen
Ganz England trauert: An Sir Bobby Charlton wurde bei jeden Premier-League-Spiel am vergangenen Wochenende gedacht. 
Ganz England trauert: An Sir Bobby Charlton wurde bei jeden Premier-League-Spiel am vergangenen Wochenende gedacht. Sportimage/imago

Es gibt Fußballspiele, die vergisst man nie. Sie brennen sich ein wie das 3:2 der DFB-Elf 1954 gegen Ungarn, mit dem Deutschland erstmals Weltmeister wurde. Auch das Hamburger 1:0 der DDR-Elf um Bernd Bransch, Jürgen Croy, Reinhard Lauck und Jürgen Sparwasser im WM-Spiel 1974 gehört dazu; das 2:0 des 1. FC Magdeburg im Finale des Europapokals der Pokalsieger nur Wochen zuvor gegen den AC Mailand mit dem Tor von Wolfgang „Paule“ Seguin; der Siegeszug (Lokalpatriot, der ich noch immer ein wenig bin) von Sachsenring Zwickau auf Europas Bühne 1975 nach dem legendären Elfmeter-Pokaltriumph gegen Dynamo Dresden.

Aus Sicht des 1. FC Union gehören der Pokalsieg 1968 und das 3:2 vor 35 Jahren in Karl-Marx-Stadt in diese Kategorie; das 8:0, wenn auch unterklassig, gegen den BFC Dynamo; der Triumphzug ins Finale des DFB-Pokals 2001; die Relegationsspiele um den Aufstieg in die Bundesliga und so manche andere sportliche Schlacht, die manchmal im Jubel, manchmal derart in Trauer endete, dass es Wochen danach noch Trost bedurfte. Das sind Spiele, von denen es noch Jahrzehnte später heißt: Weißt du, wo du an dem Tag gewesen bist, als …?

Bobby Charltons Tod stellt Union-Krise in den Schatten

Auf den ersten Blick gehört das jüngste 0:3 der Eisernen gegen Stuttgart ganz und gar nicht in diese Reihe. Verloren, wieder einmal, schon das sechste oder achte Mal, je nach Zählweise, in Folge; zum x-ten Mal kein Tor erzielt; auf Tabellenrang 15 abgerutscht; zwei Pünktchen nur beträgt das Plus auf einen Abstiegsplatz. Das soll in Erinnerung bleiben? Eventuell deshalb, weil es am Dienstagabend im Olympiastadion schon weitergeht mit dem nächsten Auftritt in der Champions League, der Partie gegen Italiens Meister SSC Neapel? Ach, keine Chance! Nicht einmal den Hauch davon.

Bobby Charlton (2.v.r) wurde mit England 1966 Weltmeister. 
Bobby Charlton (2.v.r) wurde mit England 1966 Weltmeister. PA Images/imago

Wäre da nicht jener Moment zwischen dem 0:1 und dem 0:2 gegen den VfB, als bei mir, von meinem Freund Bernd aus Schneeberg gefunkt, diese wenigen Worte aufploppten: Bobby Charlton ist gestorben. Ein trauriger Tag für den Fußball!

Bobby Charlton, ein Fußball-Gentleman

Ein Fußball-Gentleman alter Schule, ein großartiger Spieler, ein liebenswerter Mensch, der sich trotz seiner Klasse, seiner Größe, seiner Souveränität, seiner Rolle für den Sport im Mutterland des Fußballs nicht gar so wichtig nahm. Mein Interesse am Spiel im Stadion An der Alten Försterei, auch wenn es die beste Phase der Eisernen war, ging von Sekunde auf Sekunde gegen null. Es war einer jener Augenblicke, in denen man innehält und zu sagen pflegt: Es gibt Wichtigeres im Leben als das, was da gerade auf dem Rasen passiert, möge es für jeden auf dem Platz und auf den Tribünen noch so bedeutend erscheinen.

Sir Bobby Charlton und Franz Beckenbauer bei einem Champions-League-Spiel zwischen dem FC Bayern und Manchester United 2001. 
Sir Bobby Charlton und Franz Beckenbauer bei einem Champions-League-Spiel zwischen dem FC Bayern und Manchester United 2001. Team 2/imago

Kaum jemand wusste das besser als Sir Bobby. Was hatte der 86-Jährige nicht alles erlebt. Tragödien waren darunter und Triumphe, die im wörtlichen Sinne dem Tod zum Trotz. Als nämlich am 6. Februar 1958 der British-European-Airways-Flug 609 auf dem Weg von Belgrad nach Manchester nach seinem Auftankstopp in München beim dritten Startversuch von der Startbahn abkam und explodierte, fanden 23 Menschen den Tod, darunter acht Spieler von Manchester United. Unter den 21 Überlebenden befand sich auch der 20-jährige Bobby Charlton, eines der damaligen Busby Babes.

Bobby Charlton: Weltmeister 1966 und United-Legende

Um ihn herum formte Manager Matt Busby, der nach dem Unglück so schwer verletzt war, dass ihn die Ärzte nahezu aufgegeben hatten und er zweimal die Krankensalbung erhielt, eine zweite Generation von Busby Babes. Charlton marschierte voran und genoss jedes Spiel umso mehr. Acht Jahre nach dem Flugzeugdesaster gehörte er zu den Säulen jenes England-Teams, das in Wembley Weltmeister wurde. Manchester United wiederum triumphierte zehn Jahre nach dem Unglück, als sei es eine Fügung des Fußballgottes, mit einem 4:1 über Benfica Lissabon und zwei Charlton-Toren erstmals im Europapokal der Landesmeister.

Das 0:3 gegen Stuttgart und der Tod von Bobby Charlton haben so wenig gemeinsam wie die aktuelle Performance der Männer von Trainer Urs Fischer und ihr Ticket für Europas Königsklasse. Ein Vergleich verbietet sich von selbst und würde immer schräg ausfallen. Deshalb nur so viel: Sollte mich in Jahren jemand nach diesem Tag fragen, werde ich wissen, wo ich gewesen bin. Beim 1. FC Union. Oder auch wieder nicht. Sondern bei Sir Bobby. Zumindest in Gedanken.