Kolumne „Wir von hier“

Hype um die Fußball-EM: Kann mir bitte mal jemand Fußball erklären?

Ganz Deutschland ist ordentlich balla balla - aber nicht jeder: KURIER-Autor Florian Thalmann kann sich nicht erklären, warum so viele den Sport lieben.

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Die Begeisterung für Fußball ist auch bei der Fußball-EM ungebrochen. Aber: Woran liegt's, dass so viele den Ballsport feiern?
Die Begeisterung für Fußball ist auch bei der Fußball-EM ungebrochen. Aber: Woran liegt's, dass so viele den Ballsport feiern?Christoph Soeder/dpa

Na, sind Sie auch im Fußball-Fieber? Eine rhetorische Frage – natürlich sind Sie das, wie die meisten von uns. Allerdings gibt es einen kleinen, feinen Unterschied: Während einige den Spielen der Fußball-Europameisterschaft entgegenfiebern, weil der Ballsport ihre Leidenschaft ist, werden andere unweigerlich mitgezogen. Dazu gehöre auch ich. Denn eigentlich – und verzeihen Sie mir die Beichte – kann ich mit Fußball überhaupt nichts anfangen. Momentan kommt man allerdings nicht umhin, sich damit zu befassen. Weil das Spiel selbst den letzten Winkel unseres Lebens prägt.

Fußball-EM in Deutschland: Im Supermarkt regiert der Balla-Balla-Wahnsinn

Dass an vielen Autos Fähnchen wehen – geschenkt. Dass ich im Fernsehen nicht an Berichten zum Fußball vorbeikomme – in Ordnung. Dass sich viele Gespräche in vielen Freundeskreisen viele Stunden lang um Bälle drehen – auch damit kann ich leben. Doch wie groß die Hysterie ist, wurde mir erst neulich im Supermarkt klar. Ich ging durch die Gemüseabteilung, nahm aus dem Augenwinkel etwas wahr, stoppte – und ging ungläubig ein paar Schritte rückwärts. Fassungslos erblickte ich eine Stiege Salatköpfe. Eisbergsalat, in Folie eingeschweißt, grün wie die Hoffnung – und bedruckt mit dem Sechseck-Muster eines Fußballs.

So weit ist es gekommen: Sogar die Salatköpfe müssen während der Europameisterschaft wie Fußbälle aussehen. Seit dieser Begegnung habe ich den EM-Filter im Kopf, wenn ich durch den Supermarkt gehe. Da finde ich Fußball-Würste (natürlich gibt’s dazu den passenden „Kicker-Senf“), Fußball-Schokolade, Fußball-Chips, Fußball-Schaumküsse und Fußball-Gummibärchen. In einem Markt war neulich ein ganzes Stadion aus Bierkästen aufgebaut, was ich schon wieder bemerkenswert fand.

Sogar die Salatköpfe im Supermarkt sind wie Fußbälle verkleidet: Der Hype um die Fußball-EM macht auch vor dem Gemüseregal keinen Halt.
Sogar die Salatköpfe im Supermarkt sind wie Fußbälle verkleidet: Der Hype um die Fußball-EM macht auch vor dem Gemüseregal keinen Halt.FTH/Berliner KURIER

Dazu kommen die Fanartikel. Im Discounter nebenan gab’s vorgestern sogar bengalische Fackeln! Da wundere ich mich auch nicht mehr über die Tortenplatte, die ich im Kühlregal eines Marktes fand. Drei Stücke schokoladig-dunkle Donauwelle, drei rote Erdbeer-Schnitten, drei Stück gelber Sahne-Mandarinen-Blechkuchen – drapiert in Form einer Deutschlandfahne. Auf der Packung stand nix von EM, für einen Zufall halte ich die Mischung allerdings trotzdem nicht.

Mit Dynamo Dresden sozialisiert, im K-Block aufgewachsen – und doch verwirrt

Der Hype um den Fußball – er lässt mich rätseln. Und das, obwohl ich mit dem Ballsport aufwuchs. Die Heimat in Sachsen, der Vater seit Jahrzehnten Mitglied bei Dynamo Dresden. Schon als Kind wurde ich ins Stadion mitgenommen – und erinnere mich noch, wie fassungslos ich nach einem der Spiele nach Hause kam. „Mutti, der Papa hat heute mit einem fremden Mann getanzt.“ Dass man das im Torjubel macht, ließ mich staunen.

Manche schmücken Autos, Gärten und Häuser mit Deutschlandfahnen - auch in Sachen Dekoration wird alles gegeben.
Manche schmücken Autos, Gärten und Häuser mit Deutschlandfahnen - auch in Sachen Dekoration wird alles gegeben.Stefan Puchner/dpa

In der Jugend dann ein neuer Versuch. Zum einen, weil meine damalige beste Freundin auch Dynamo-Fan war. Zum anderen, weil es viele in der Schule waren. Und der Papa ging natürlich auch noch in den K-Block – in Dresden ist das der Stehplatz-Block, in dem das Herz der Fan-Szene schlägt. Anfangs hatte ich Spaß im Stadion, wurde von seiner Clique mit offenen Armen empfangen. Sie amüsieren sich allerdings heute noch darüber, dass ich immer ein Buch zum Lesen in der Tasche hatte und nur dann zum Jubeln aufsprang, wenn es die anderen taten. Eine Weile ging es gut, dann hatte ich das Gefühl, dass meine Zeit anders sinnvoller angelegt ist.

Fußball-EM: Warum begeistern sich so viele für den Sport?

Ich könnte jetzt den Uralt-Witz über die 22 Männer machen, die einem Ball hinterherlaufen und dabei so viel Geld verdienen, dass sich eigentlich jeder einen eigenen leisten könnte. Aber ich lasse es natürlich sein. Denn auch wenn ich die Begeisterung für Fußball nicht nachvollziehen kann, die Abseitsregel nicht kenne und mich – um Verwirrung zu vermeiden – immer wieder daran erinnern muss, dass die Mannschaften in der zweiten Halbzeit die Seiten wechseln: Eines verstehe ich gewiss. Dass der Fußball, ob man ihn mag oder nicht, vielen Menschen sehr viel gibt. Was gibt er Ihnen? Schreiben Sie mir gern. Erklären Sie mir, was die Leidenschaft für Sie ausmacht. Ich freue mich wirklich und ehrlich auf jede einzelne Erklärung.

Fußballfans jubeln und feiern auf der Fanmeile zur Fußball-EM in Berlin.
Fußballfans jubeln und feiern auf der Fanmeile zur Fußball-EM in Berlin.Future Image/imago

Ich werde dem Sport niemals viel abgewinnen können, auch nicht bei der Fußball-EM. Für alle, die ihre Produkte gerade mit Fußball-Designs verkleiden, bin ich ein schlechter Kunde. Und wenn ich Menschen treffe, die in Mannschafts-Outfits durch die Stadt walzen, werde ich sie nur schwer verstehen. Aber wissen Sie was? Das macht überhaupt nichts. Wichtig ist, dass alle, die Freude daran haben, die Zeit nach Herzenslust genießen können. Denn wenn der Sport einen Teil dazu beiträgt, dass Menschen näher zusammenrücken, dass sie den grauen Alltag kurz vergessen können und es normal wird, dass auch mal Männer mit Männern tanzen, kicke ich für Sie liebend gern meinen Salatkopf aufs Kassenband.

Florian Thalmann schreibt eigentlich über Tiere – und manchmal über Berliner Befindlichkeiten. Kontakt: wirvonhier@berlinerverlag.com